: Schlußbilanz mit offener Rechnung
Heiner Geißler will recht haben, wo er es zu Zeiten der CDU-Regierung nicht bekam ■ Von Norbert Seitz
Wie gerne würden Journalisten den verborgenen Haß von gedekkelten Politikern entfesseln. Etwa den alten Schmidt-Haß des Werner Maihofer aus den Tagen des Deutschen Herbstes, den Kohl- Haß des Philipp Jenninger, den Lafontaine-Haß des Rudolf Scharping oder den Stoiber-Haß, den der arme Streibl-Max jüngst mit ins Grab nehmen mußte.
Hinter der Aufforderung an seine Partei, ihr Verhältnis zur PDS zu überprüfen, vermutete man schon den verwegenen Beginn eines Heiner Geißlerschen Rachefeldzuges. Doch sein neuestes Buch bleibt hinter dem vollmundigen Versprechen zurück, es „voller Empörung und Zorn“ geschrieben zu haben. Viel Parteidisziplin muß der frühere Generalsekretär nicht aufbringen, um seine wenig sensationellen Wahlerkenntnisse zu modulieren.
Die soziale Schieflage und der Kanzler-Verdruß hätten die Union um die Macht gebracht – genauer: die Aufkündigung des „Bündnisses für Arbeit“ und der ausgebliebene Wechsel von Kohl zu Schäuble. Die Wahl sei innerhalb eines halben Jahres – zwischen dem November 1995 und dem April 1996 – vorentschieden worden, als Lafontaine mit seiner Konfrontationsstrategie Scharping ablöste und die Koalition bei der Dreierwahl in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein relativ gut davonkam. Danach sei Schluß gewesen mit der „Konsenssauce“ in Sachen „Bündnis für Arbeit“. Henkels „Anarcho-Liberalismus“ habe sich fortan bei wachsendem Unbehagen von Unionsstammwählern durchgesetzt.
Hinzu kam die völlig verpatzte Nachfolgediskussion. Der Parteitag in Leipzig 1997 habe Schäuble eindeutig akklamiert, ehe er von Kohl danach in einem Interview als Kronprinz von seinen Gnaden heruntergehandelt wurde. Der Autor gratuliert sich selber zur angeblich „genialen Idee“, als Wahlmotto „Deutschland dankt Helmut Kohl“ im Rahmen einer Schäuble-Kandidatur vorgeschlagen zu haben.
Doch Geißler dementiert seine rechthaberische Erfolgsstrategie, wenn er seine alte Personalie Peter Hintze und dessen Zapfsäulenkampagne populistisch mit Tante Allensbach verteidigt. Es grenzt an Satzungsfetischismus, wenn der gekränkte Altgeneral trotz der Wahlkatastrophe seiner Partei dafür plädiert, Hintze („menschlich und intellektuell ein außerordentlich guter Mann“) hätte bis zu einer ordentlichen Neuwahl im Jahr 2000 weitermachen sollen.
Dabei treibt ihn die Sorge um, am 27. September 98 könne eine critical election stattgefunden haben, das heißt ein verheerender politischer Erdrutsch mit langfristigen Verschiebungen. Mit einem glühenden Plädoyer für den reinen rheinischen Kapitalismus möchte er die Union gegen alle neoliberalen Anfechtungen – von Westerwelle bis Hombach – positionieren.
Er kämpft gegen falsche Vorbilder und Philosophien bei der Überwindung der Arbeitsgesellschaft, rechnet zum Beispiel mit dem amerikanischen Modell ab, nach dem jeder Job besser sei als keiner. Die Devise, sozial sei, was Arbeit schaffe, bekämpfe zwar Massenarbeitslosigkeit, produziere aber Massenarmut, weil einem Großteil der Bürger nur die Wahl zwischen Hungerlöhnen oder Arbeitslosigkeit gelassen würde. Ebenso bedauert er, daß die Union nach der Ostasienkrise aufgewacht sei, während die SPD im Wahlkampf das Konzept einer Ordnung der internationalen Finanzmärkte vertreten habe: „Es ist erstaunlich, daß die CDU die ökonomische Herausforderung und die moralische Dimension der Globalisierung nicht begriffen hat. Sie überläßt es den Sozialdemokraten und den Grünen, geistige und ethische Konzepte dazu zu erarbeiten.“
Geißlers Buch weckte aber vor allem Neugier, nachdem er der CDU eine Klärung ihrer Position zur PDS empfohlen hatte. Die CDU habe den inneren Widerspruch nicht überwunden, ehemalige Kommunisten wie Gorbatschow und Gyula Horn positiv zu bewerten, aber ehemalige deutsche Kommunisten als Aussätzige zu behandeln. Wie Geißler als kampfhündischer CDU-Generalsekretär wohl reagiert hätte, wäre ein solches Argument vom politischen Gegner gekommen?
Nun, gemeinsame Ordnungsvorstellungen zwischen PDS-Mitgliedern und konservativen Teilen der Union gibt es sicher zuhauf, weshalb auch der CDU-Fraktionschef in Schwerin, Rehberg, eine gesamtdeutsche Wertedebatte fordert, um neue Dämme gegen die rote Flut zu errichten: „Gemeinwohl, Verantwortung, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung, Ordnung, Disziplin und Solidarität“ stehen dabei im Vordergrund, strukturkonservative und deutschnational denkende PDS-Wähler für die CDU zu gewinnen. Geißler hält dagegen, die Union müsse sich wehren gegen reaktionäre und nationale Kleingeisterei. Moderne Kardinaltugenden wie „Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Achtung der Menschenwürde und Zivilcourage“ seien bedeutender als „Fleiß, Leistungsbereitschaft und Ordnungsliebe“. Doch eine Strategie für die neuen Länder hat er nicht zu bieten. Im Gegenteil: „Dabei wäre es wahrscheinlich richtiger, den Westen so zu lassen, wie er ist, und die politische Kultur im Osten zu akzeptieren.“
Statt dessen ist bei Geißler nur noch der Ehrgeiz zu verspüren, als aufklärerischer Lordsiegelbewahrer der sozialen Marktwirtschaft in Erscheinung zu treten. Die CDU dürfe keine konservative Partei wie die Tories in England werden, die die Moral in der Politik mit der Dreieinigkeit aus Pragmatismus, Nationalismus und Monetarismus zu überwinden suchen. Geißler fordert Ludwig Erhards Revival gegen eine SPD, die das Soziale auf staatliche Fürsorge reduziere, sowie gegen jene Konservativen in der Partei, die die Union in einen Tory-Aufguß oder eine „aufgeblasene Volksausgabe der FDP“ transformieren wollten.
Heiner Geißler hat mit seinen emphatischen Positionen gleich zweimal verloren: einmal gegen den neoliberalen Spätkurs der Kohl-Regierung und nunmehr gegen den nationalonservativen Frühkurs der Schäuble-Opposition. Mit seinen Plädoyers für den rheinischen Kapitalismus besetzt der Autor keine progressive strategische Position mehr, weder in der Union noch in der deutschen Politik insgesamt. Sein Buch rechnet eine Ära auf, die der Autor am Ende nur noch aus der zweiten Reihe eines publizistisch vagabundierenden elder social statesman erleben durfte.
Heiner Geißler: „Zeit, das Visier zu öffnen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 270 S., 39,80 DM
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