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"Le surf" erobert den Elysee-Palast

■ Frankreich hatte sein Minitel, das Internet war eine amerikanische Erfindung und wurde mit Mißtrauen betrachtet. Aber letztes Jahr wurde alles ganz anders: Der Präsident loggt sich selbst ein, und das C

Lange haben die Franzosen gezögert, bevor sie auf das réseaux des réseaux umgestiegen sind. Die Reserve vor einem neuen intox aus den USA, die Angst vor einer „Infiltration durch die CIA“, hat dabei eine Rolle gespielt. Aber auch der niedrige Verbreitungsgrad von Privatcomputern und die landestypisch gering entwickelten Englischkenntnisse. Vor allem aber war der elektronikinteressierte Franzose anderweitig absorbiert: Das „Minitel“, die französische Version des in Deutschland nie so recht erfolgreichen Btx, beherrschte den Markt. Das Betreiberunternehmen „France Télécom“, das zuletzt jährlich rund 7 Milliarden Franc mit dem „Minitel“ einnahm, sah keine Veranlassung, in neue Technologien zu investieren.

Doch Die Wende kam 1998. Sie war getragen von der geballten Wucht des Pariser Establishments. Den Anfang machte der neogaullistische Staatschef Jacques Chirac, der sich seit seiner Wahl mehrfach vor laufenden TV-Kameras ins Internet einweisen ließ und immer wieder seine Forderung nach „Internet in den Schulen“ wiederholte. Dann mahnte im Sommer der sozialistische Premierminister, sein Land riskiere, den Anschluß an die Informationstechnologie zu verlieren. Schließlich organisierte Paris einen Internet-Tag, auf den sämtliche Medien einstiegen, als gäbe es nichts Wichtigeres in der Welt.

Inzwischen gibt es staatliche Programme zur Ausstattung von Ministerien, Schulen und Bibliotheken mit dem Internet. Plötzlich wurde das Internet omnipräsent. Die Lethargie schlug in Cyberphilie um. Die Franzosen entdeckten le surf. Binnen weniger Monate vervielfachte sich die Zahl der internautes. Die Zugangsanbieter registrierten im Jahr 1998 fast ohne Werbeaufwand eine Vervielfachung ihrer Neuanmeldungen. „Wanadoo“, der Télécom-eigene größte unter ihnen, steigerte die Zahl seiner Abonnenten von 70.000 im Jahr 1997 auf über 400.000 Ende 1998. Der größte unabhängige Anbieter, „World- Net“, erweiterte seine Kundschaft im selben Zeitraum von 30.000 auf 50.000 Teilnehmer. Initiativen, Unternehmen und Regierungsstellen richteten Websites ein. Museen scannten ihre Kunstwerke ins Netz, Zeitungen brachten Multimedia-Beilagen auf den Markt, Parteien richteten Infodienste ein, und der Élysée-Palast lud zum virtuellen Besuch.

Kontaktanbahner und private Jobsucher bauten neben dem Minitel ein zweites Standbein im Internet auf, und zuletzt richteten unverbesserliche Zentralisten in Paris eine site als Sammelstelle für Petitionen jeglicher Art ein. Noch bevor das von „France Télécom“ versprochene billige und leicht bedienbare Internet-Terminal auf den Markt kam, das die Konkurrenz mit dem Minitel aufnehmen soll, das bislang zu einem symbolischen Preis vermietet wird, boomte das Netz. Inzwischen ist ein mehrtägiger virtueller Frankreichbesuch kein Problem mehr. Für fast alle Interessenlagen gibt es ein Angebot.

Kurz vor Jahresende besiegelte schließlich eine erste soziale Bewegung den Siegeszug des Internets bis hinunter an die breite Basis: Am 12. Dezember organisierten internautes ihren ersten nationalen Protest. Mit dem später in „Boykott“ umbenannten ersten Streik ihrer Geschichte, der sich an dem italienischen Vorbild orientierte, versuchten sie niedrigere Tarife bei der „Télécom“ (gegenwärtig etwa 16 Franc für die volle Stunde am Tag, etwa 8 Franc in der Nacht) zu erwirken.

Zwar gibt es noch nicht die gewünschte Pauschale, doch brachte der Protesttag andere sichtbare Erfolge zustande: Das öffentliche Interesse konzentrierte sich erneut auf das Internet, und zugleich entwickelte es eine eigene wortstarke Lobby. Für den 31. Januar mobilisierten die internautes bereits zum nächsten Boykott gegen die France Télécom.“ Unter mehreren Adressen, etwa www.ft-strike.org/, ist der Aufstand im Web dokumentiert, und im Sog des Protesttages sprossen zahlreiche weitere sites, die das Internet eng mit dem Leben diesseits des Netzes verzahnten. Seither ist das Internet auch in Frankreich Debattenthema und Debattierort zugleich.

Auf der Strecke blieben dabei aber zahlreiche von der ersten Generation von Amateuren gebastelte und meist anzeigenfreie Webseiten. Insidertreffpunkte wie „Mygale“ und die „virtual baguette“ sind in den vergangenen Monaten verschwunden oder wurden von Größeren aufgekauft. Nachdem die meisten Universitäten und Forschungseinrichtungen ihre Maschinen entzogen, konnten die Non-profit-Gruppen ihre werbefreien Adressen nicht mehr länger finanzieren.

Heute befinden sich die französischsprachigen webmestres, Archive und Suchmaschinen fast alle in der Hand von großen Konzernen wie Havas oder Hachette oder sind direkt Teil US-amerikanischer Gruppen. Wer auf ihnen surft und sich einen schnellen Überblick über die Diskussionen der internautes verschaffen will, wird auch in Frankreich fast pausenlos von Werbung bombardiert.

Eine Alltagshilfe freilich ist das Internet in Frankreich immer noch nicht. Wer eine Fahrkarte für die SNCF bestellen will, tut das weiterhin schneller im „Minitel“. Auch Telefonnummern finden sich immer noch einfacher mit der traditionellen Minitel-Methode. Es sei denn, man legt Wert auf die im Internet mitgelieferten kleinen Umgebungsstadtpläne. Und wer gar auf Informationen in Französisch angewiesen ist, stößt zwangsläufig an die Grenzen des réseau. Nicht nur, weil die Zahl der französischsprachigen Websites immer noch begrenzt ist, sondern auch, weil die Anglizismen des Internets die französische Sprache einfach platt gerannt haben. Für den Angriff der clic, chat und email waren selbst die in zahlreichen früheren Schlachten erprobten Schützer der Frankophonie nicht gewappnet. Ihre linguistischen Verteidigungsversuche konnten sie oft nur als Kompromisse durchsetzen. Statt mit „webmaster“ versuchten sie es mit dem im Französischen logischen hébergeur. Inzwischen geben sie mit einem bloß eingallisierten, bislang noch von keinem Lexikon erfaßten webmestre klein bei. Statt des „Providers“ erfanden sie den fournisseur d'accès, doch dann blieb es bei operteur, was ursprünglich auch nicht besonders französisch ist. Den Versuch, die französischen Akzente vor dem Internet zu retten, wagten die Sprachschützer erst gar nicht. Das Ergebnis ist ein französischsprachiges Internet, das fast ohne accent aigu und circonflexe auskommt.

Kapituliert haben die Freunde der Frankophonie freilich nicht. Sie richteten mehrere internationale, frankophone sites ein, die unter anderem die einstigen afrikanischen Kolonien ins Internet einbeziehen sollen. Sie sorgten für die Verbreitung der französischsprachigen Radio- und TV-Sender über das Internet (wo freilich US- amerikanische Programme zum Abhören nötig sind). Und sie machten – wie im Lande Molières üblich – ein Politikum aus der Sprache. Ende vergangenen Jahres erhielt Premierminister Jospin einen Bericht über die „Präsenz der Frankophonie in der Informationsgesellschaft“. Unter anderem wird ihm darin empfohlen, öffentliche Mittel für das Internet zur Verfügung zu stellen. Dorothea Hahn

hahn@taz.de

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