: "Die Türkei hat ein Rechtstaatsproblem"
■ Günther Verheugen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, hält die Türkei für einen EU-Kandidaten. Der SPD-Politiker sieht aber große Hindernisse: Das Land erfülle das Demokratiekriterium nicht, die Kur
taz: Als SPD und Grüne noch in der Opposition waren, haben Sie die Türkeipolitik der alten Regierung kritisiert. Nach dem Regierungswechsel haben Sie angekündigt, daß Sie im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft konkrete Schritte für engere Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei unternehmen wollen. Worin bestehen die denn nun?
Günther Verheugen: Zunächst geht es darum, daß wir das Europäische Parlament dazu bewegen, den noch ausstehenden Teil der Verpflichtungen zu übernehmen, die die EU im Zusammenhang mit der Zollunion, die sie mit der Türkei gebildet hat, übernommen hatte. Die EU muß glaubwürdig bleiben. Ich habe gerade erst am Mittwoch in Straßburg den Parlamentspräsidenten mit großem Nachdruck darauf hingewiesen.
Warum wird die Türkei nicht wenigstens Kandidat für die EU- Mitgliedschaft?
Wir haben ja schon kurz nach der Regierungsübernahme klargemacht, daß die Türkei für uns ein Kandidat ist. Das heißt aber auch, daß für die Türkei die gleichen Kriterien gelten – politisch und wirtschaftlich – wie für die anderen Kandidaten. Es finden keine Beitrittsverhandlungen statt. Die Türkei hat bisher die Möglichkeiten, die ihr auf dem EU-Gipfel in Luxemburg angeboten wurden, nicht genutzt. Wir müssen jetzt versuchen in Gesprächen zu erreichen, daß die Türkei akzeptiert, daß sie nicht in einer Reihe steht mit anderen Kandidaten sondern in einer besonderen Rolle ist. Ich interpretiere Luxemburg nicht als Absage, sondern als Angebot, mit der Türkei eine eigene Spur aufzumachen.
Was ist denn an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei soviel schwieriger als beispielsweise an einer Rumäniens?
Die Türkei erfüllt das Demokratiekriterium nicht vollständig, weil die allerletzte Macht im Staat beim Militär liegt. Sie hat ein beachtliches Rechtsstaatsproblem, sie hat Nachbarschaftsprobleme, und die Kurdenfrage ist ungelöst. Das sind vier schwerwiegende Hindernisse.
Können Sie nachvollziehen, daß in der Türkei geargwöhnt wird, es gehe gar nicht um diese Fragen, sondern um Widerstand gegen die Mitgliedschaft eines muslimischen Landes in der Union?
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Dieses Argument muß aus der Debatte raus. Wir sehen die EU nicht als einen Club christlicher Staaten. Für die Türkei gelten dieselben Bedingungen wie für alle anderen Länder. Die Tatsache, daß sie ein muslimischer Staat ist, spielt keine Rolle. Aber sie bekommt auch keinen Rabatt wegen ihrer strategischen Bedeutung. Diese Bedeutung ist allerdings ein starkes Argument dafür, daß die Beitrittsperspektive offen gehalten werden muß.
Wie lange wird's denn dauern?
Ein zeitlicher Rahmen läßt sich noch nicht abschätzen. Das ist ja nicht einmal bei den anderen Kandidaten möglich.
Wie soll denn eine Mitgliedschaft Zyperns in der EU ohne die Türkei funktionieren?
Eine gute Frage. Die EU hat Verhandlungen mit Zypern in der Erwartung aufgenomnmen, daß schon allein die Beitrittsverhandlungen eine Lösung des Zypernproblems erleichtern. Das nennt man Katalysatoreffekt. Wir hoffen, daß dieser im Verlauf der Verhandlungen auch tatsächlich eintritt.
Kommen wir zur Kurdenfrage. Der türkische Staatspräsident Demirel hat gerade in einem Interview gesagt, niemand habe dazu je einen politischen Lösungsvorschlag gemacht. Können Sie das ändern?
Die Türkei hat ja bisher jede Internationalisierung des Kurdenproblems strikt abgelehnt. Wenn Demirels Äußerung bedeutet, daß er bereit ist, mit der EU oder sonst jemandem darüber zu reden, wäre das eine interessante neue Entwicklung.
Und wie könnte der Vorschlag aussehen?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Kurdenproblem anders gelöst werden kann als durch eine vollständige Gleichberechtigung. Die Idee einer staatlichen Unabhängigkeit wird in der internationalen Gemeinschaft nun von wirklich niemandem vertreten.
Kann das Kurdenproblem nicht eine Situation wie im Kosovo entstehen lassen, wenn es ungelöst bleibt? Dann hätte die Nato eine derartige Krise innerhalb des eigenen Bündnisses.
Die Natur der Konflikte ist vergleichbar, aber die Auswirkungen sind noch sehr unterschiedlich. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum wir uns für die Kurdenfrage so sehr interessieren. Zum einen mit Blick auf die Menschenrechtslage, aber eben auch aus politischen Gründen. Die innere Stabilität eines so wichtigen Landes wie der Türkei ist natürlich eine erstrangige Frage.
Die Zeit drängt also?
Ja, sie drängt. Das Problem wird sich auch ganz gewiß nicht durch Zeitablauf erledigen. Aber wir können nicht mehr tun, als zu versuchen, die Türkei zu beeinflussen – und ihr übrigens auch klarmachen, daß ihr Wunsch nach einer EU-Mitgliedschaft unter anderem von einer Lösung des Kurdenproblems abhängt.
Bekommen Sie Signale, daß sich da in Ankara irgend etwas bewegt?
Nein. Das ist aber jetzt im türkischen Wahlkampf auch nicht zu erwarten. Interview: Bettina Gaus
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