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Der Nabel zum Nichts

Wo Phallus war, soll Omphalos werden: Elisabeth Bronfen entknotet das ödipal gebeutelte bürgerliche Subjekt und gibt ihm eine demokratische neue Mitte. Die Inszenierungen der Moderne im Zeichen des Nabels  ■ Von Ulrike Baureithel

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Das christliche Abendland begründete mit dem Beginn des Johannes-Evangeliums nicht nur seine monotheistische Kultur, sondern es rettete den antiken, leibfremden „Logos“ in die Neuzeit. Die Antike spendete der symbolischen Ordnung darüber hinaus ihr Zeichen, den Phallus. Hätte es den Ödipus-Mythos nicht schon gegeben, so hätte Freud ihn erfinden müssen, um das bürgerliche Familiendrama, das im 19. Jahrhundert auf die Bühne gehoben wird, theoretisch zu begründen. Im Zeichen des Phallus ordnet Freud die familialen Begehrenspositionen, die um die Dichotomie von „ihn haben“ oder „er sein“ kreisen. Dies unendliche zirkulierende Begehren zu unterdrücken, zu verschieben, zu „sublimieren“, ist – so das Konstrukt – das Kernszenario der symbolischen Kastration und der Ausgang kultureller Aktivität.

Die Kritik am phallozentrierten Ödipus-Komplex, der den somatischen Mangel der Frau als Zeichen ihrer gesellschaftlichen Unterlegenheit installiert, ist nicht neu. Das Problem an den Einwänden war unter anderem, daß sie immer ex negativo argumentierten und keinen adäquaten Ersatz anzubieten hatten, weil eine schlichte Umkehrung nicht funktionierte. Dieses Angebot macht die in Zürich lehrende Anglistin Elisabeth Bronfen in ihrer Studie „Das verknotete Subjekt“. Statt des nur der einen Hälfte der Menschheit vorbehaltenen Fleischfortsatzes mit all seiner aufgeladenen Bedeutung wählt sie ein scheinbar nichtsnutziges, aber, wie sie sagt, „demokratisches“ Körpermerkmal, um den „Ursprung“ zu markieren: den Nabel. Der Nabel verbindet (noch!) jeden Menschen mit der Mutter, er markiert das Ende einer Dyade und den neuen Anfang, und er verweist gleichzeitig auf eine Wunde, ein Urtrauma: Schnitt, Trennung, Verlust. Übrig bleibt der funktionslose verknotete Nabelknopf, der auf nichts anderes hinweist als auf das Nichts.

Für Bronfen ist der Nabel mehr als nur ein somatisches Zeichen, sie liest ihn auch als semiotische Figur: Das multiple Subjekt „verknotet“ sich über einer Wunde, schützt und bewahrt gleichzeitig das, was vergessen wird, die traumatische Erschütterung. Bronfen bezeichnet den Nabel als Omphalos, jenes mütterliche Emblem der Antike, das die Nähe zur Sterblichkeit versinnbildlicht. Während, so Bronfen, „die Kastrationsmacht des Phallus darauf beruht, daß dieser auf das unentwegte Bezeichnen und Aufschieben des Begehrens verweist, steht der Omphalos für das traumatische Wissen um die Sterblichkeit, auf der die menschliche Existenz gründet.“

Im Zeichen des eigensinnigen Nabels, des Omphalos, interpretiert die Wissenschaftlerin nun die hysterischen Inszenierungen und Selbstinszenierungen der Moderne. Die Hysterie ist nämlich ein Versuch, sich zum Anderen ins Verhältnis zu setzen: „Ich bin unvollständig!“ Das traumatische Wissen durchwandert den psychischen Apparat und produziert Störungen in Form von An- und Ausfällen. Die somatischen Krankheitszeichen sind aber nichts anderes als „verschobenes“ Wissen. Das psychische Leiden wird „konvertiert“ und aktualisiert in Form von körperlichen Symptomen, die auf keine organische Ursache zurückzuführen sind: Viel Lärm um nichts. Tatsächlich verweisen sie auf ein anderes Nichts, auf das Urtrauma der menschlichen Verwundbarkeit und Vergänglichkeit. Freud hat für diese Umschreibung den Begriff „Schutzdichtung“ gebraucht, weil sie sowohl schützt als auch abdichtet – und hysterisch ver-dichtet.

Wenn beispielsweise ein Norman Bates in Hitchcocks „Psycho“ sich als seine Mutter inszeniert und ersatzweise Marion mit einem Stich nicht etwa in die Brust oder in die Genitalien, sondern in den Nabel ermordet, dann ist dies eine finale omphalische Repräsentation des traumatischen Wissens, das Norman hat und nicht vollständig verdrängen kann. Am Ursprung steht die Trennung und der Muttermord, den Norman erfolgreicher vollzieht als sein Vorgänger Ödipus, der sich, gescheitert, am Ende blendet. Diesen beabsichtigten, für Bronfen zentralen Muttermord des Ödipus hat die phallozentrische Lesart des Mythos bislang ignoriert.

In den Hysteriegeschichten liest die Anglistin jedoch nicht nur die individuelle Fallgeschichte, sondern er ist der Stoff, aus dem die hysterische Kultur der Moderne gewebt ist. Nicht nur der einzelne Körper ist verwundbar und sterblich, sondern das Symbolische überhaupt, indem es das traumatische Wissen zwar verdrängen, aber nicht völlig löschen kann. Gleichzeitig ist die hysterische Repräsentation therapeutisch nicht bearbeitbar, denn sie widersetzt sich der Schließung und erfindet, wie Bronfens Lesart von Woody Allens Film „Zelig“ zeigt, immer neue Versionen der entziehenden Anpassung.

Gerade diese Geschmeidigkeit der hysterischen „Krankheit“ faszinierte die Mediziner des 19. Jahrhunderts. Nicht faßbar und klassifizierbar und deshalb Medium immer neuer „Erzählungen“, bot die „grande hystérie“ eine unerschöpfliche Projektionsfläche medizinischer und kultureller Entwürfe, die sich gegenseitig beeinflußten. Nicht die Hysterikerin „ist“ die Krankheit, sondern sie wird konstituiert durch das Sprechen über die Symptome und ihre „Lösung“. Die Hysterikerin verwandelt die traumatische Urszene in immer neue Symptome, die der Analytiker als sexuell kodiertes „Familiendrama“ zur Aufführung bringt und reproduziert. In einer „Wiederaufführung“ des berühmten Freudschen Traumes von „Irmas Injektion“ kann Bronfen zeigen, daß dem „Familienroman“ ein ganz anderer Text unterlegt ist: Er handelt nicht mehr vom hysterischen Körper Irmas, sondern von der Schuldangst des Analytikers, die er mit der symbolischen Formel des Trimethylamin zu bearbeiten sucht.

Bronfens Interesse gilt dem kulturellen „Kommunikationsmodus“ der Hysterie, die sie als eine „Krankheit der Repräsentation“ behandelt. Ihre Spurensuche im Text- und Bildrepertoire der Moderne zielt nicht darauf ab, eine neue „Erzählung“ herzustellen, und sie verschließt sich radikal der Kohärenz. Historische Genauigkeit, insbesondere wo es um medizingeschichtliche Hintergründe geht, ist gewiß nicht ihre Sache und offenbar auch nicht ihr Anliegen. Ihr Streifzug wirkt selbst leicht „hysterisch“ und hat etwas von dem ziellos „wandernden Uterus“, den die antiken Ärzte für die hysterischen Symptome verantwortlich machten. Mozarts „Zauberflöte“ neben Cindy Sherman, die Dichterin Anne Sexton neben dem Regisseur David Cronenberg, Charcots Vampire neben den Hysterikerinnen Anne Radcliffes, die nach Bronfen der „Phantomisierung“ des Anderen eine doppelte Bühne bieten: das eigene Bewußtsein und die äußere Realität, in der die somatischen Symptome inszeniert werden.

Mitunter wirken Bronfens subtile Lesarten überzogen – überdeterminiert wie die Hysterie selbst. Man hat, wie bei Flauberts „Madame Bovary“, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist, ein wenig den Eindruck, Bronfen habe sich – wie der besprochene Autor – „selbstverausgabt“ und „verloren“ im wuchernden Material, das durch die Nabel-Klammer nicht immer „verknotet“ werden kann.

Die euphorische Aufnahme, die diese durchaus wissenschaftliche und keineswegs immer leicht goutierbare Monumentalstudie erlebt, ist sicher darauf zurückzuführen, daß Bronfen in vielen Fällen auf ein sehr bekanntes Bild- und Textarsenal zurückgreift: Hitchcocks „Psycho“ und „Marnie“ dürften einem breiten Publikum ebenso geläufig sein, wie Mozarts „Zauberflöte“ und Wagners „Parsifal“ – „Schutzdichtungen“ vielleicht nicht nur im Bronfenschen Sinne.

Ein weiterer Grund dürfte in den politischen Implikationen liegen, die der Text ausstreut. Mit dem Nabel, dem Omphalos, will Bronfen erklärtermaßen die phallische Sinnstiftungen und Repräsentationen, wohl nicht überwinden, so doch – hysterisch – hintergehen. Statt symbolischer Kastration Entnabelung, die alle Menschen teilen. Sein Fluchtpunkt – das Wissen vom Ende menschlichen Seins – hebt die omnipotente Repräsentation auf zugunsten eingestandener Ohnmacht und Versehrtheit. Adieu, Phallus, willkommen der „dunkle Kontinent der Hysterikerin“, den schon die französische Theoretikerin Luce Irigaray begrüßte.

Tatsächlich sind die „Nabel- Brüche“ der Kultur es wert, auf ihren Sinn hin gelesen zu werden. Einen Bruch vollzieht indessen auch die Autorin Bronfen, wenn sie das Wissen um die geschlechtsspezifische Fundierung der Kultur „verschiebt“ zugunsten „demokratischer“ Nabelschauen. Daß jeder ein „Hysteriker“ in ihrem Sinne ist, verleitet sie zu dem Schluß, daß die männlichen und weiblichen Repräsentanten dieser Spezies getrost in einen Topf geworfen werden können und die Geschlechterdifferenz abdanken kann: „All die schillernden Wesen“, bejubelt Bronfen im Spiegel die androgynen Techno- Kids, „bei denen oftmals nicht zu erkennen ist, ob es Mädchen oder Jungen sind.“ Deshalb sei die Gender-Debatte zwar „notwendig“ gewesen, „aber überholt“. Wie bei der Hysterie „viel Lärm um Nichts“? So einfach hätte man es gerne in den phallischen Zentren.

Elisabeth Bronfen: „Das verknotete Subjekt“. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. Volk und Welt, Berlin 1998, 784 Seiten, 98 DM

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