Auf Tauchgang im virtuellen Studio

Die Illusion ist fast perfekt. Am Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt kann man virtuell durch Hallen und große Bauwerke schlendern, lange bevor der Grundstein gelegt wurde  ■ Von Bernhard Matuschak

Man wähnt sich in einer Katakombe, wenn man das Technologielabor des Fraunhofer Instituts für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt (IGD) betritt: Im Dämmerlicht sitzt eine Schar von Programmierern schweigsam vor den Computern. Schallisolierte Wände schlucken jeden Laut der klappernden Tastaturen und lassen eine geradezu feierliche Atmosphäre aufkommen.

Der spirituell angehauchte Vergleich ist nicht so weit hergeholt, in der fensterlosen Kammer befindet sich tatsächlich so etwas wie das Allerheiligste im IGD: Aufgestelzt auf zwei Meter hohen, armdicken Balken steht mitten im Raum ein weißer Kubus mit einer Kantenlänge von zweieinhalb Metern – die erste funktionsfähige fünfseitige CAVE der Welt. Das Kürzel steht für „Cave Automatic Virtual Environment“ und ist ein begehbarer Raum, mit einer computererzeugten und dreidimensional erlebbaren Umwelt; der Cyberwelt, wie sie der amerikanische Schriftsteller William Gibson nannte.

Auf Wände, Boden und Decke – die Rückseite, durch die man die „virtuelle Höhle“ betritt, ist offen – wird von außen eine Computergrafik projiziert, die sich für den mit einer 3-D-Brille ausgestatteten Betrachter in der CAVE zu einem räumlichen Bild zusammensetzt. Die Sehhilfe ist mit dem Computer verbunden, und so kann sich der Betrachter interaktiv in die computergenerierte Welt begeben. So kann er beispielsweise ins größte Aquarium der Welt, das Expo- Ozeanarium von Lissabon eintauchen.

Auch wenn die künstliche Umgebung noch ein wenig an eine Comicwelt erinnert, vergißt man, umgeben von Haien, Rochen, Meeresschildkröten und blubbernden Hintergrund-Tauchgeräuschen, fast, wo man sich befindet.

Daß man in der CAVE ein wenig den Boden unter den Füßen verliert, liegt aber auch an den dicken Filzpantoffeln, in die jeder Besucher vor Betreten der Cyber- Kammer schlüpfen muß. Das Schuhwerk dient zum Schutz der empfindlichen Bodenfläche – eine Platte aus Spezialglas. Decke und Seitenwände sind aus hochwertiger Leinwand gefertigt.

Das besondere an der CAVE am Fraunhofer Institut ist im Gegensatz zu den bislang existierenden dreiseitigen Kammern, daß die Illusion auch erhalten bleibt, wenn man nach oben oder unten schaut. Richtete man in den einfach aufgebauten Kammern den Blick nach oben oder unten, ging die Illusion der Cyberwelt sofort verloren.

Am Boden bissen sich die Wissenschaftler lange die Zähne aus. Kein Material schien geeignet, als Untergrund in einer virtuellen Höhle Verwendung zu finden. In Tokio beispielsweise war das technische Know-how vorhanden, allein es haperte mit der Umsetzung.

Auch in Darmstadt wußte man lange nicht, wie das Problem zu beheben sei. „Wir haben ein Jahr nach einem geeigneten Material gesucht“, sagt Informatiker Matthias Unbescheiden. Die frei im Raum aufgehängte, durchsichtige Bodenplatte muß sehr dünn sein, damit der Brechungswinkel, der bei der Projektion von außen auftritt, möglichst klein bleibt. Andererseits darf sich das Material auch nicht verformen, wenn sich fünf Personen gleichzeitig in der CAVE aufhalten.

Das Material, das die Anforderungen erfüllt, fanden die Wissenschaftler im Straßenverkehr: in Österreich gefertigtes Paraglas, das an Schallschutzwänden von Autobahnen eingesetzt wird.

Inzwischen haben die Informatiker aus Darmstadt schon mehrere künstliche Umwelten in der CAVE entstehen lassen. So kann man zum Beispiel ein Anatomieseminar besuchen. Auch am Bau des Frankfurter Flughafens war das Darmstädter Institut beteiligt. Schon lange bevor der Terminal 1 des Airports fertiggestellt war, konnte man durch die virtuelle Abflughalle schlendern. Die ersten Besucher waren die Bauherren selbst. Nach dem Besuch in Darmstadt mußten die Architekten, wie Matthias Unbescheiden weiß, noch einmal über die Bücher und einige Veränderungen an den Plänen vornehmen.

Auch die Volkswagen AG hat die CAVE bereits für ihre Zwecke genutzt und den neuen Kleinbus Sharan in Echtgröße am IGD vorgestellt. „Gerade in der Automobilherstellung läßt sich die CAVE hervorragend einsetzen. Noch bevor ein teurer Prototyp gebaut wird, können Änderungen am Design vorgenommen werden, oder man kann sehen, ob alle Motorteile für Reparaturen gut zugänglich sind“, sagt Unbescheiden. Bereits planen einige Automobilhersteller ihre Prototypen einmal ganz durch virtuelle Modelle zu ersetzen. Ersten Berechnungen zufolge, sollen sich Entwicklungskosten und -zeit durch den Einsatz der CAVE halbieren lassen.

Die Möglichkeiten der CAVE reichen zwar schon über das Betrachten der künstlichen Welten hinaus. So lassen sich mit einem Datenhandschuh auch Gegenstände anfassen und Reparaturen ausführen. Dabei ist es nicht einmal notwendig, daß sich alle „Mechaniker“ am selben Ort befinden. Spektakulärstes Beispiel ist ein Simulation, bei der der deutsche Astronaut Ulf Merbold in Darmstadt gemeinsam mit einem Kollegen, der sich in Houston befand, eine virtuelle Reparatur am Weltraumteleskop Hubble übte.

Allerdings hapert es noch am Gefühl: Derzeit arbeiten die Forscher an der Kraftrückkopplung, so daß ein künftiger Cyber-Monteur auch spürt, wenn er Schrauben lockert oder festzieht. „Unser Ziel ist es, möglichst viele Sinne anzusprechen, um so Wirklichkeit und Illusion noch mehr ineinander übergehen zu lassen. Wir wollen, daß der Besucher in der CAVE auch hören, tasten und riechen kann, und die künstliche Umwelt auf den Menschen in der Kammer reagiert“, gibt Unbescheiden die Vorgaben für die Weiterentwicklung der Cyberwelt vor.