Poeten und Wurstemigranten

Wie schon in den zwanziger Jahren leben auch heute viele russische Emigranten in Berlin. Poeten frönen ihrer Kunst, beispielsweise im Café Nostalghia. Doch der Hauch von Boheme in der Berliner Szene ist dünn  ■ Von Karsten Gravert

Dankbar lächelt der Mann am Pult durch seinen strubbeligen Dichterbart. Als der Applaus für seine Verse verebbt, blinzelt er in das rauchschwangere Halbdunkel des Cafés und fragt aufmunternd: „Sind sonst noch Poeten im Saal?“ – Eine rhetorische Frage. Fast alle Russen, die sich dienstags im Café Nostalghia treffen, sind Dichter. Da sitzen die jüdische Babuschka, die ihre Kindheit in der Ukraine in Kurzgeschichten verarbeitet hat, und der bärtige Intellektuelle, der immer ein paar Exemplare seiner erfolglosen Emigrantenzeitschrift mit sich herumträgt. Ein junger Glatzkopf erzählt seine makabren georgischen Märchen. Ein fein gekleideter Herr liest die Geschichte seiner treuen Hündin Lapa: Seine Frau wollte in den reichen Westen, und so mußte er Lapa in Kiew zurücklassen. Obschon alt und verfilzt, sah man ihr an den Augen die tiefe, gute Seele an. Die Verlassene ist Rußland, das versteht jeder im Raum.

Die russischen Emigranten Berlins finden im Café Nostalghia eine kulturelle Oase. Die Boheme versammelt sich stilecht in Prenzlauer Berg, im kerzenbeschienenen Ambiente der Jahrhundertwende, mit Stuckdecke, zierlichen Holzstühlen und brokatbesaumten Vorhängen. Schwarzgekleidete Feingeister nippen ihren obligaten Rotwein. Zweimal in der Woche werden die Stühle in drei enge Reihen gerückt, und das Russische Kammertheater legt ein metaphorisches Ballettspektakel auf das Parkett – Reminiszenz an den „Blauen Vogel“, das legendäre russische Kabarett im Berlin der Weimarer Republik.

Mit ein bißchen Phantasie kann man sich im Nostalghia wie in einem der Emigrantenlokale zu Beginn der zwanziger Jahre fühlen. Damals wimmelte es in Berlin von emigrierten adeligen Literaten und jungen sowjetischen Avantgardisten, ein „wahres Treibhaus der russischen Kultur von gestern“, wie der Dichter Andrej Bely schrieb. Täglich saß der Schriftsteller Ilja Ehrenburg in der „Prager Diele“ am Nollendorfplatz und beobachtete das bunte Treiben des russischen Berlin, den Foxtrott und die erbitterten Gelehrtenstreits. Wladimir Nabokov jobbte als Tennislehrer und schrieb seine ersten Romane, Maxim Gorki gab eine literarische Zeitung heraus. Die 86 russischen Verlage der Stadt publizierten mehr Bücher als Moskau oder Petrograd. Die Berliner gewöhnten sich schnell an die merkwürdigen Gestalten, die sich „Symbolisten“ oder „Konstruktivisten“ nannten, und tauften die Gegend zwischen Charlottenburg und Zoologischem Garten flugs in „Charlottengrad“ um.

Heute leben wieder über 100.000 Russen in der Hauptstadt. Versammelt sich im Nostalghia die Keimzelle einer erneuten goldenen Epoche des „Russkij Berlin“? Schwemmt der Zusammenbruch der Sowjetunion ein ähnliches Potential in die Berliner Kulturszene wie ihre Geburt? Der Dramatiker Alexej Schipenko winkt ab: „In den Zwanzigern emigrierten vor allem die Aristokratie und die Intelligenz, Menschen auf höchstem kulturellem Niveau. Heute beobachten wir eine bloße „Wurstemigration“: einfache Leute, die auf ein besseres materielles Leben aus sind. Einige suchen auch künstlerischen Erfolg, aber letztlich ist das auch ,Wurst‘.“

Als Schipenko 1992 auswanderte, war nicht Ruhm oder Geld sein vornehmliches Ziel. Er floh vor dem Vakuum in seinem künstlerischen Umfeld, das der nackte Überlebenskampf im anbrechenden Kapitalismus auslöste. Dennoch hat er seinen Wurstzipfel schon auf dem Teller. Schipenko zählt zur erfolgreichen Berliner Theateravantgarde, die den Zeitgeist der desolaten Neunziger in schrillen Stücken auf die Bühne bringt. Die experimentellen Theater der Stadt inszenieren seine Vorlagen laufend und mit Inbrunst. Nebenher findet er noch Zeit, dem „Verein zur Förderung der russischen Kultur“ zu präsidieren, der das Programm des Nostalghia gestaltet. Der sympathische Enddreißiger übernimmt auch die Moderation der literarischen Stündchen. Künstlerischen Anspruch hegt er dabei nicht, „es ist eher ein psychologisch-therapeutischer Akt, die Autoren kämpfen damit gegen die Einsamkeit, das Gefühl, abgeschnitten zu sein. Mir geht es nicht um Qualität, von mir aus können die Leute irgendwelche albernen Schnulzen vorsingen. Wichtig ist allein die Tatsache, daß es überhaupt kulturelles Leben gibt.“

Die Ansätze des Nostalghia sind eine Ausnahme, die russische Kultur in Berlin bietet ein ansonsten recht trauriges Bild: Die wenigen literarischen Zeitschriften krebsen mangels intellektueller Leserschaft am Rande der Existenz. Der ambitionierte Almanach Ostrov, den ein Karikaturist und seine Ehefrau seit vier Jahren in liebevoller Heimarbeit zusammenstellen, kann aus Geldmangel nicht mehr erscheinen. Das Spartenprogramm beim lokalen Fernsehsender Spreekanal bietet selten mehr als flaches Entertainment. Und die beiden russischen Zeitungen, Evropazentr und Russkij Berlin, sind wie alle russischen Zeitungen des Landes „nicht für gebildete Leute geschrieben“, wie Friedrich Gorenstein urteilte. Auch er beschreibt die Emigration der neunziger Jahre nur als „selbstgewählte Evakuierung“ aus materiellen Gründen. Das Einzelgängertum des bekannten Literaten ist symptomatisch für die zahlreichen russischen Künstler der Hauptstadt. Der Versuch des „Clubs Dialog e.V.“, einen Künstlerverband zu gründen, stieß bei den meisten auf Desinteresse. „Ich habe zur Zeit keine rosigen Prognosen für die hiesige russische Kultur“, konstatiert Tatjana Forner, die Vorsitzende des Clubs, der sich den kulturellen und sozialen Interessen der russischen Berliner verschrieb.

Auch der Maler Wassili (der Namen wurde geändert) fühlt sich isoliert in seiner vollgehängten Schöneberger Wohnung. 1.500 seiner knallbunten Bilder lagern hier, kein Quadratzentimeter Wand bleibt unbedeckt. „Kein Bild hat mich mehr als drei Tage gekostet“, prahlt er. Mit dem Gutachten eines Museumsdirektors fuchtelnd, erläutert er das Ausmaß seines Ruhms in Rußland. Wassilis Malweise ist ein Potpourri aus der klassischen russischen Avantgarde, Kandinsky, Malewitsch, Filonow, angereichert mit sozialmoralischen Sujets. In simplen Allegorien prangert er das Sowjetsystem an. Lenin = Stalin = Hitler = böse. „Diese Bilder hätten mich beinahe ins Lager gebracht“, erzählt Wassili, und weist auf einen grinsenden Lenin, der über ein Pflaster aus Leichen wandert, die Moskwa ist rot von Blut. Daneben mißhandeln fiese Geheimdienst-Fratzen einen Intellektuellen. Ein weißes Pferd, Symbol für das wahre Rußland, wird von roten Hunden geschunden.

Neben seiner lukrativen Arbeit als Restaurator von Ikonen unterhielt Wassili ein geheimes Atelier in Petersburg. Es wurde nie entdeckt, trotzdem lud man ihn eines Tages vor, ins zentrale KGB-Gebäude der Stadt. „Ich wurde die ganze Nacht verhört. Am nächsten Morgen ließ man mich laufen, ich packte sofort meinen Koffer und tauchte zwei Jahre unter.“ Anfang der Neunziger emigrierte er dann nach Berlin. „Doch hier bin ich nicht zu Hause“, stellt er klar.

In Berlin versuchte er alles, um sich in das deutsche Herz zu malen: Auf einem Bild wird ein trauriges Geschwisterpaar durch die Schandmauer getrennt. Auf einem anderen errichtet sich ein gesamtdeutscher Herkules auf dem Potsdamer Platz ein Denkmal. Doch irgendwie kommt derlei gutgemeinte Symbolik nicht an: „Warum wollen die Deutschen meine Bilder nicht?“ Wassili versteht die Welt nicht mehr, „Ich würde sie sogar verschenken, wenn ein Museum mich bitten würde.“

1923 verglich der Literaturtheoretiker Wiktor Schklowski die „arme russische Emigrantenwelt“ mit einem akkubetriebenen Automobil: „Aufgeladen wurden wir in Rußland, hier rotieren wir nur, wir rotieren und werden in Kürze stillstehen.“ Wassili scheint diese Beobachtung neu zu bestätigen.

Dieser künstlerische Stillstand muß nicht das Schicksal aller russischen Emigranten sein. Der Erfolg Alexej Schipenkos belegt dies. Gerade das Zusammenprallen seiner russischen Wurzeln mit der westlichen Kultur versucht er künstlerisch zu nutzen. „Ein Künstler ohne Tradition ist ein Scharlatan“, meint er. „Im Westen herrscht eine Kultur der Beliebigkeit, der Leere und Negation. Das ist schädlich für die Seele. Nur wenn wir uns an unseren kulturellen Wurzeln stärken, können wir hier bestehen. Nur dann kann auch kreativer Austausch stattfinden.“

Das Café Nostalghia geht diesen Weg.