: Mit dem Klingelbeutel gegen Kündigungen
■ In Steglitz sollen Mitarbeiter einer Kirchengemeinde über Spendengelder finanziert werden
Karin Lutz streicht zärtlich über das Schutztuch der Tischorgel im kleinen Nebenraum der Markus- Kirchengemeinde in Steglitz. „Die ist transportierbar und hübsch anzusehen“, sagt die Rentnerin, als könne das Instrument die Tristesse vertreiben, die hier herrscht. Nur noch in diesem Raum finden im Winter Gottesdienste statt. Für die gut 30 Gläubigen, die sich sonntags im kahlen Kirchenschiff verlieren würden, lohnt es sich nicht, die evangelische Kirche noch zu heizen.
Aber die 71jährige „Kirchmeisterin“, die die Finanzen ehrenamtlich verwaltet, ist dennoch guter Dinge. Wahrscheinlich ist dies Gottvertrauen, denn die Geldnot der Gemeinde ist chronisch. Seit Jahren gehen die Kirchensteuereinnahmen zurück. Jetzt hat Pfarrer Isbert Schultz-Heienbrok die Notbremse gezogen: Er ruft seine Schäfchen zu Spenden auf, um zwei Mitarbeitern nicht kündigen zu müssen – eine einzigartige Aktion in der Hauptstadt, vielleicht sogar bundesweit.
„Tausendmal hundert“ heißt der Spendenaufruf, „denn exakt 100.000 Mark fehlen uns in diesem Jahr in der Personalmittelkasse“, wie Schultz-Heienbrok im Gemeindebrief schreibt. Nüchtern zieht der 59jährige Pfarrer in einem Gruppenraum der Gemeinde Bilanz. An der Wand hängt ein Schaubild: „Die Gemeinde“, ist dort zu lesen, „sammelt Geld, begrüßt sich, singt, betet ...“ Doch mit dem Geldsammeln hapert es seit Jahren. Zwar gibt es nominell immer noch 12.000 Gemeindemitglieder, aber seit 1982 verliere man jedes Jahr mehr als 300 – vor allem durch Wegzug, Sterbefälle und Austritte. Hinzu kommt, daß de facto nur noch ein Drittel der Mitglieder Kirchensteuer zahlt. Zwei Drittel seien „zu jung, zu alt oder zu arbeitslos, um sie zu zahlen“, erklärt der Pfarrer. Denn Kirchensteuer zahlt nur, wer auch Steuern auf sein Einkommen zahlt: Rentner und Arbeitslose also nicht.
Es sei eben ein Vorurteil, daß die Kirche reich sei – auch die „Riesenkirche“ der Gemeinde belege nicht das Gegenteil: „Versuchen Sie, die mal zu verkloppen.“ Um die Finanznot der Gemeinde zu lindern, haben einige der zwölf hauptamtlichen Mitarbeiter der Gemeinde einschließlich der beiden Pfarrer ihre Arbeitszeit verkürzt: Bei Schultz-Heienbrok machte das einen Einkommensrückgang von rund 500 Mark auf etwa 4.500 netto im Monat aus.
Da üblicherweise die Personalkosten den größten Posten im Gemeindebudget ausmachen, habe die Nachbargemeinde schon drei Angestellte entlassen. Dadurch seien sie „einigermaßen saniert“, sagt Schultz-Heienbrok – dennoch sei das für ihn der falsche Weg: Bei ihnen müßte man eine Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendarbeit und einen Organisten kündigen, da alle anderen schon länger angestellt seien. „Aber das kann doch nicht gehen“, empört sich der Pfarrer, das sei „Wahnsinn“. Die Entlassenen fänden nur schwer neue Arbeit, obwohl doch genug Arbeit da sei, und gerade die Kündbaren „verbürgen durch ihre Tätigkeit die Zukunft der Gemeinde“.
Ein paar tausend Mark hat die Gemeinde durch die Aktion schon eingenommen – das restliche Geld werde schon reinkommen: „Ich bin guter Dinge, daß das klappt“, betont der Pfarrer. Dann führt er durch das Gemeindehaus, einen mehrstöckigen Backsteinbau in der Albrechtstraße, errichtet 1924 – Symbol besserer Zeiten, als die Gemeinde noch 30.000 Mitglieder hatte. Viele Räume sind bereits vermietet, an soziale Einrichtungen und sogar Studenten-WGs, einfach, um Geld zu sparen.
Man bewege sich hin zu einer Minderheitenkirche, meint Schultz-Heienbrok am Ende – und da würden alle Dienstleistungen, die die Kirche heute noch anbieten könne, viel teurer: „Da werden einige noch überrascht sein.“ Immerhin bliebe dann ein Trost: Genug Platz wird im Nebenraum der Kirche mit der neuen Tischorgel dann sein – mit Blick auf einen wunderschönen Wandteppich an einer Wand, ein Hungertuch. Philipp Gessler
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