piwik no script img

Out of Gerolfingen

Der Münchner Jungpolizist Hans-Peter Reich geht in seiner Freizeit zum Krafttraining, ist im Dienst selten glücklich und fährt so, oft er kann, nach Hause: Von der Sehnsucht eines Großstadt-Bullen, endlich Dorf-Gendarm zu werden  ■ Aus München und Gerolfingen Philipp Maußhardt

Eine alte Linde, um die herum eine Sitzbank läuft. Daneben der Brunnen aus Stein und dahinter gleich die Kirche mit dem kleinen Friedhof. Das Zentrum von Gerolfingen ist schnell überblickt. Im ersten Haus links an der Hauptstraße, sofern man von Wassertrüdingen kommt, lebt Hans-Peter Reich. Das heißt, nicht nur er: Seine Eltern wohnen noch hier und der Geist der Großeltern und natürlich der geliebte Kater „Diogenes von Rosenzweig“.

Manchmal fährt ein Auto zu schnell durch Gerolfingen. Größere Verbrechen sind seltener. Darum hat Hans-Peter Reich für dieses abgelegene mittelfränkische Dorf durchaus einen exotischen Beruf. Reich ist Polizist. Großstadtpolizist. Inspektion 42, München West.

Wer sich in Gerolfingen für einen Beruf entscheidet, hat im Grunde zwei Möglichkeiten: Landmaschinenmechaniker oder Raiffeisenbankangestellter. Beide Stellen waren schon besetzt, als Hans-Peter 16 Jahre alt war. Darum hat er den dritten Weg gewählt. Er bewarb sich mit fünf anderen seiner Schulklasse für den Einstellungslehrgang zur Polizei. „Die Polizei hat bei uns einen hohen Stellenwert“, sagt er, und Elektroinstallateur zu werden wie sein Vater, das schreckte ihn ab: „Der ist die Woche über immer auf Montage in Stuttgart.“ In dieser Gegend zwischen Dinkelsbühl, Ansbach und Gunzenhausen weiß man lediglich, wie man Industriegebiet buchstabiert. Arbeitsplätze gibt es hier nur wenige, und es sieht nicht so aus, als ob sich das ändern würde.

Im vergangenen Jahr verzeichnete man im Polizeipräsidium München 154 Neuzugänge. Die meisten der jungen Polizisten wurden gegen ihren Wunsch nach München versetzt. Doch weil in der Landeshauptstadt der größte Bedarf an Sicherheitspersonal besteht, blieb ihnen keine andere Wahl. „Traumstadt“ München – ein Klischee. Die Beamten, die aus Mittelfranken, Schwaben oder dem Bayerischen Wald nach München versetzt werden, wissen, daß sie mindestens fünf Jahre in der Großstadt ihren Dienst versehen müssen. Weit weg von ihren Freundinnen, Freunden und Verwandten. Solange dauert die Mindestzeit für jeden Einsatzort. Nur Verheiratete mit mindestens einem Kind bekommen ein Jahr erlassen. Dermaßen unbeliebt ist die Arbeit im Großstadt-Revier, daß Bewerber für München in ihrer Personalakte sogar einen Notenbonus bekommen.

Auch Hans-Peter Reich hatte sich nach Ende seiner Ausbildung für drei andere Direktionsbereiche beworben. Vergeblich. Er kam vor drei Jahren nach München – „das war für mich der Horror“, sagt er heute.

Die Münchner Inspektionen und Bereitschaftsdienste der Polizei werden intern als „Ausbildungslager“ verspottet, weil überdurchschnittlich viele junge Beamte hier erst einmal fünf Jahre Erfahrung sammeln müssen, ehe sie um Versetzung in ihre Heimatgemeinden bitten dürfen. Die erste Konfrontation mit dem Homo urbanicus verläuft dabei für die Jungpolizisten selten angenehm. Der Respekt vor der Uniform hält sich in Grenzen. „Zu Hause“, sagt Hans-Peter Reich, „bin ich der Gendarm. In München sagen die Jungen meist Bulle zu mir.“

Reich ist in einer „Verfügungsgruppe“. Er wird zur Unterstützung der regulären Streifenbeamten eingesetzt und zu Großeinsätzen am Wochenende in Fußballstadien.

„Hausfriedensbruch in der Nibelungenstraße.“ Über Funk bekommt Reich, der zusammen mit einem Kollegen im Einsatzwagen unterwegs ist, gerade eine Einsatzmeldung. Schon biegen sie ab in Richtung Neuhausen. Ein offenbar Verwirrter treibt sich seit zwei Stunden im „Penny-Markt“ zwischen den Verkaufsregalen herum und ist von der Geschäftsführung nicht zum Verlassen des Ladens zu bewegen. Reich und seine Kollegen bitten den jungen Mann in ein Hinterzimmer und erklären ihm die Lage. „Haben Sie verstanden?“, fragt Reich. „Ist doch alles irgendwie von unten upside down, das kann ja sowieso gar nicht stimmen. Ich meine, gestern jedenfalls.“ Der merkwürdige Dialog zwischen den Polizisten und dem Verwirrten bleibt absurd. Dann verläßt der offensichtlich unter Drogen stehende Mann schließlich das Geschäft. Die ganze Zeit über standen sich die beiden Polizeibeamten versetzt gegenüber, daß sie, wenn sie hätten schießen müssen, sich nicht gegenseitig getroffen hätten.

„Man weiß ja nie, ob nicht einer plötzlich ein Messer zieht“, sagt Reich. Mißtrauen gehört zur Standardausrüstung jedes Polizisten. Und Polizeiobermeister Reich hat die Unschuld vom Lande lange schon verloren. Daß er „den Menschen helfen wollte“, sagt er, sei sein Motiv gewesen, zur Polizei zu gehen.

Doch die Jahre mit ihren Einsätzen vor Fußballstadien, bei Personenkontrollen auf dem Münchner Hauptbahnhof oder bei nächtlichen Fußstreifen haben in ihm die Koordinaten verwackelt und eine ganz andere Witterung geweckt: „Widerstand“. Reich sagt das Wort so oft, weil die Vorstellung, daß jemand sich gegen ihn wehrt, allgegenwärtig ist. „Einen sauberen Widerstand hinlegen“, sagt er, oder: „Es reicht ja schon, daß einer nicht mitgeht. Das ist schon Widerstand.“ Vor allem bei jungen Ausländern habe er die Erfahrung gemacht, „daß sie schnell Widerstand leisten“, und gerade hat man einem Kollegen seiner Inspektion vorgeworfen, er hätte beim vergangenen Oktoberfest zu hart zugelangt. „Dabei leisten fast alle Betrunkenen Widerstand.“

Reich ist nicht sehr groß, hat aber einen Brustumfang wie zwei. In seiner Freizeit macht er soviel Krafttraining, daß, wenn er die Arme senkrecht hängen läßt, sie automatisch einen halben Meter vom Körper abstehen. Einer, den man nicht zum Feinde haben will. Widerstand zwecklos.

Doch Reich zum Freunde haben ist auch nicht leicht: Die Dienstpläne lassen keine Regelmäßigkeit in der Freizeit zu. Reichs Freunde sind darum fast alle auch Polizisten. Wenn andere seines Alters am Abend fröhlich feiern, steht Hans-Peter Reich nicht selten vor der Wohnung auf der Straße mit dem Meßgerät: Lärmpegel zu hoch – „Ich bitte dann den Veranstalter die Musik leiser zu drehen, und beim dritten Mal drohen wir, die Veranstaltung zu schließen.“

„Man weiß ja nie, ob einer ein Messer zieht“

Von Reich einmal das Wort „Scheißjob“ zu hören, darf man nicht erwarten. Nicht öffentlich jedenfalls. Schließlich hatten ihn seine Vorgesetzten für das Interview auch darum ausgewählt, weil er ein freundliches Wesen hat und dennoch nicht zu leutselig wird. Kritik an den Bedingungen seines Berufs übt Reich nur zwischen den Zeilen. Ja, 1996, als Bereitschaftspolizist in einer Münchner Hundertschaft, da habe er im ganzen Jahr vier Wochenenden frei gehabt. Das sei „etwas wenig“ gewesen. Nein, die Wohnung in München habe er aufgegeben. Dafür wohne er jetzt zusammen mit zwei Kollegen „für 80 Mark sehr günstig“ im Monat in einem Zimmer der Polizeikaserne in Dachau. Für seine gut 3.000 Mark brutto sei der Münchner Wohnungsmarkt eben „doch etwas teuer“.

Seit seinem 16. Lebensjahr wohnt Hans-Peter Reich in Polizeikasernen. Erst in Würzburg, dann in Augsburg, dann in München. Wen wundert's, daß der 22jährige, sobald eine Pause im Dienstplan länger als 24 Stunden dauert, in seinen Wagen steigt und, wenn er sehr müde ist, noch zwei Dosen „Redbull“ leert, um dann die 174 Kilometer nach Hause, nach Gerolfingen zu fahren. Zur Linde. Zum Brunnen. Wo er „der Gendarm“ ist, und wo sein Großvater „so stolz auf mich war, als er hörte, daß ich zur Polizei ging“.

Wenn er das Ortsschild „Gerolfingen“ passiert, hat Reich schon vergessen, daß sie ihm in München manchmal auf der Straße nachrufen, „was will denn der Bulle schon wieder hier?“ Sowieso hat er gelernt, „daß es Menschen gibt, die einen gar nicht beleidigen können“.

Im ersten Stock im ersten Haus, links, wenn man von Wassertrüdingen kommt, wartet schon Kater „Diogenes von Rosenzweig“ auf ihn. Nicht irgendein Straßenkater. Ein reinrassiger, preisgekrönter Zuchtkater mit einem bulligen Kopf. „Wir verstehen uns“, sagt Hans-Peter zu Diogenes und Diogenes schnurrt zurück.

Nur noch ein paar tausend Kilometer Gerolfingen–München und zurück. Nur noch ein paar hundert Nächte in der Polizeikaserne. Nur noch vier Jahre München. Dann geht der Traum von Hans-Peter Reich in Erfüllung: „Vielleicht Polizeikommissar und vielleicht einen Posten zu Hause, nicht weit von Gerolfingen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen