"Wir sind nicht für Interpretationen"

■ Sie arbeiten immer zu zweit und halten Puppen manchmal für die besseren Menschen: Die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster wechseln vom Schauspiel Frankfurt ans TAT. Ein Gespräch über die Tugend

Die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster (Jahrgang 1970 und 1969) stammen aus Cottbus und Meißen und haben gemeinsam an der Berliner Ernst-Busch- Schule Regie studiert. Bekannt sind sie, weil sie seitdem ständig als Duo inszenieren und auch Puppen in die Arbeit einbeziehen. 1996 inszenierten sie erstmals in Frankfurt. Seit der Spielzeit 1997/98 sind sie als Hausregisseure beim Schauspiel Frankfurt fest engagiert, wo sie zuletzt „FaustI“ von Goethe inszenierten. In diesem Jahr gehen sie mit ihrem Ensemble ans Theater am Turm (TAT), das sie gemeinsam mit William Forsythe leiten werden. Ihr Vertrag dort läuft bis zum Jahr 2002.

taz: Sie geben nach Premieren zuweilen zu, in Ihren Inszenierungen Fehler gemacht zu haben. Das ist im Theaterbetrieb unüblich.

Tom Kühnel: Ja, aber in anderen Lebensbereichen, in Wirtschaft und Management etwa, ist es schon länger klar, daß offene Strukturen viel produktiver sind als hierarchische, die jede Kritik letzten Endes im Keim ersticken. Kritik wird leider schnell als persönlicher Angriff gewertet. Der positive und der sachliche Aspekt von Kritik wird nur von wenigen gesehen. Wir wollen diesen offenen Umgang mit Kritik nicht aus Tugend oder moralischen Gründen pflegen, sondern weil wir Kritik als ein Lebensinstrumentarium begreifen.

„FaustI“, Ihre neueste Inszenierung, ist von der Kritik größtenteils zerrissen worden. Es heißt, Sie seien zu kindisch gewesen, der Teufel zu possierlich, das Ganze läppisch. Was sagen Sie dazu ?

Robert Schuster: Auch wenn wir zuweilen immer noch als Shooting-Stars bezeichnet werden — unsere bisher dreizehn Inszenierungen sind von den Kritiken insgesamt nicht verwöhnt worden. Das ging bis zu dem Vorwurf, daß wir in der Lage seien, große Texte auf Puppenformat runterzukochen. In jedem Fall nehmen wir die Kritiken jedoch ernst und werten sie nach den Premieren mit den Schauspielern aus. Im Falle des „Faust“ waren wir aber in der Tat überrascht, welche Emotionalität sich da sowohl im Positiven als auch im Negativen in den Texten äußerte.

Was ist Ihr Erklärungsversuch?

Schuster: Im Zusammenhang mit „Faust“ erscheint immer die Vorstellung irgendeiner deutschen Tiefe, die in der Welt gefordert wird, wobei man sich gleich fragt: Was ist deutsche Tiefe? Das ist doch eher ein metaphysisches Gefühl. Das Verrückte ist, daß wir dazu gar keinen Bezug mehr haben. Ich kann weder sagen, was deutsche Tiefe, noch was „das Deutsche“ ist.

Es wird immer so getan, als ob beim „Faust“ bereits alles verstanden ist, das glaube ich aber nicht. Auf diesem Hintergrund ist es selbstverständlich ein Problem, wenn wir Dinge einfach verstehbar machen, denn viele denken, es sei banal oder eben „läppisch“, wenn sie es verstehen.

Kühnel: Dabei kann ich persönlich über nichts nachdenken, was ich nicht verstanden habe.

Um verstanden zu werden, sorgen Sie mal mit drastischen, mal mit banalen Mitteln für Klarheit. Im „Faust“ wurde der Teufel etwa durch verschiedene Puppenfiguren dargestellt, als Affe, Fuchs, Ziegenbock und Kater. Warum überhaupt Puppen statt Menschen?

Kühnel: Es wird selten honoriert, daß Klarheit ein Effekt ist, der gerade durch die Puppe möglich wird. Sie ermöglicht eine Expressivität, die dem Menschen gar nicht gestattet ist. Das Böse an sich hat ja keine Gestalt, es ist Projektion und hat „ideelle Existenz“, wie Schiller in einem Brief an Goethe sagt. Das wollten wir mit der Puppe sichtbar machen. Wir haben dieser ideellen Existenz je nach Funktion auch verschiedene Gestalten gegeben, damit man gar nicht erst auf die Idee kommt, es sei ein Individuum mit eigener Geschichte und eigener Biographie.

Schuster: Tatsache ist, daß wir die Figur des Faust durchgängig ernst genommen haben. Insofern ist es dann um so überraschender, daß viele behaupten, „Faust“ sei als Parodie oder als Karikatur gemeint. Das ist ein Mißverständnis. Es deutet aber auf ein ästhetisches Problem in der Zeit hin.

Welches?

Schuster: Die Frankfurter Rundschau wirbt zum Beispiel mit dem Slogan „Meinung zählt“. Das ist ein sophistisches Denken, nicht nur der Frankfurter Rundschau, sondern allgemein dieser Zeit. Demnach ist die Interpretation die einzige und oberste Kategorie. Wir haben diesen Kunstansatz nicht. Wir versuchen, mit unserer Arbeit auf ein Wesentliches zurückzukommen und überhaupt erst einmal zu setzen. Das beginnt mit der Behauptung: Es gibt ein Wesentliches, das jeder gleichermaßen verstehen kann, ein eher platonischer Ansatz als ein von Adorno kommender. Mißverständnisse müssen zwangsläufig entstehen, wenn Leute auf unsere Stücke schauen mit der Frage: Wo ist denn nun die Interpretation? Wir zielen ja gar nicht auf diese subjektive Haltung.

Kühnel: Insofern machen wir vielleicht einen Fehler, wenn wir wieder und wieder auf die großen literarischen Texte zurückgreifen, denn dort kommen wir sozusagen „natürlicherweise“ in Interpretationszwang.

Was ist für Sie dieses „Wesentliche“?

Schuster: Wir versuchen, jenseits der Subjektivität eine Idee aufscheinen zu lassen, derer alle Menschen gleichermaßen teilhaftig werden können. Es ist eine im eigentlichen Sinn transzendentale Hoffnung, die nicht axiomatisch zu erforschen ist.

Kühnel: Das Wesentliche heutzutage ist ein Schockierendes. Ich glaube nicht, daß es eine angenehme Botschaft ist, gesagt zu kriegen, wie wir wirklich funktionieren. Worauf sich unser Leben reduziert. Und es reduziert sich nun mal auf Banalitäten. Das ist ein Eingeständnis. Trotzdem bleibt die Frage nach der Freiheit und nach dem Individuellen – jedoch heute anders. Wenn Parteien „Mode“ werden oder zum modischen Accessoire, weil es gar keine Konsequenz mehr hat, spielt sich alles auf der gleichen Benutzeroberfläche ab. Dadurch wird alles gleichwertig. Es ist immer schwerer zu entdecken, was das individuell Menschliche ist. Gerade im Theater gibt es aber Momente, in denen ich eine schockierende Ehrlichkeit spüre. Daraus entsteht dann wieder eine Hoffnung.

Welche Ehrlichkeit?

Kühnel: Ich fange mal von einer anderen Seite an. Die Sehnsucht des Schauspielers ist die Sehnsucht nach dem außerwählten Moment auf der Bühne, einzeln, wenn Hunderte von Leuten zuschauen. Diese Sehnsucht hat im Grunde jeder Mensch, der ins Theater geht. Er will diesen auserwählten Moment sehen.

Das Auserwähltsein hat aber weniger mit unserem Leben als Funktionäre des Theaters zu tun als damit, daß wir Teil eines Programmes sind, in dem wir uns alle befinden. Der Managerkurs, in dem so einem Manager beigebracht wird, wie er mit einem Mitarbeiter spricht, den er entlassen muß, ist letzten Endes viel spannender als die Frage, ob Polyneikes begraben wird oder nicht. Im Theater müssen unser aller Zwänge auf die Szene kommen, immer mit dem Ziel, darüber hinauszuweisen. Wenn ich weiterdenke, ohne die Realität zu verstehen, lande ich irgendwann in Hollywood.

Am TAT werden Sie jetzt mit Forsythe und dem Ballett Frankfurt zusammenarbeiten. Sie sind bis 2002 als Leiter des TAT-Ensembles engagiert. Wie wird das aussehen?

Kühnel: Es wird ein TAT-Ensemble und den Versuch einer ensembleorientierten Arbeit geben. Wir wollen Einheitsgehalt für die Künstler und mehr Gleichberechtigung bei den Entscheidungen. Schauspieler sollen mit entscheiden können, welche Regisseure inszenieren sollen, allerdings nicht, welche Schauspieler die dann besetzen. Die Konstruktion am TAT geht davon aus, daß es zwei künstlerische Hauptströmungen gibt: das Weltlabel „Ballett Frankfurt“ und das TAT-Ensemble, wofür wir erst mal als Namen stehen, obwohl das TAT-Ensemble ein Kollektiv ist. Außerdem gibt es den dritten Bereich der Gastspiele. Idealerweise wirken Produktionen aller Bereiche aufeinander ein.

Welche Projekte bereiten Sie gegenwärtig für das TAT vor?

Schuster: Unser nächstes Projekt heißt „Deutsch für Ausländer“. Forsythe bringt dazu Bewegung und Tanz, wir bringen die Sprache mit. Am TAT möchten wir noch einmal das Privileg nutzen, uns diese existentiellen Fragen zu stellen: Wer bin ich? Was bin ich? Was tue ich? Von welcher Basis aus kann ich überhaupt operieren? Erst dann können wir vielleicht wieder alte Stücke machen, weil dann wieder klar ist, warum wir das machen. Interview: Antje Paetzold