Wer entführte Leonore Marx?

Die deutschstämmige Mutter einer „Verschwundenen“ will Anzeige gegen die argentinischen Junta-Chefs erstatten. Sie hofft auf Hilfe von Roman Herzog  ■ Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Lange haben sie sich nicht mehr getroffen. Die Mütter der 72 Deutschen oder Deutschstämmigen, die während der letzten argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) verschleppt und ermordet wurden. Jahrelang suchten sie nach Spuren ihrer Kinder. Wohin wurden sie verschleppt? Wann wurden sie ermordet? Von wem? Jetzt hat sie die Festnahme des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet in London ermuntert, es wieder zu versuchen. Vier von ihnen haben bereits in Deutschland Strafanzeige gegen Militärs des argentinischen Regimes gestellt. In den kommenden Wochen will Ellen Marx in Berlin Anzeige gegen die Chefs der argentinischen Militärjunta erstatten. Ihre Tochter Leonore wurde von der Polizei fünf Monate nach dem Militärputsch entführt.

Gerade einmal 30 Minuten nimmt sich Bundespräsident Roman Herzog heute nachmittag bei seinem Staatsbesuch in Argentinien Zeit für Ellen Marx und die anderen Mütter. „Wir sind daran gewöhnt, uns keine Hoffnungen zu machen. Aber es gibt Dinge, von denen man fühlt, daß man sie nicht lassen soll, auch wenn die Aussichten schlecht sind“, sagt Ellen Marx.

Während der Diktatur haben sich die Mütter von der Deutschen Botschaft Hilfe erhofft. Doch wenig ist geschehen. Weder die Bundesregierung noch die Deutsche Botschaft retten auch nur einen der deutschen Verschwundenen aus den Kerkern der Militärs. Dabei war das nicht unmöglich.

Die Deutsche Botschaft blieb damals untätig

Als die Deutsche Elisabeth Käsemann zusammen mit der Britin Diana Houston von den Militärs verhaftet wurde, forderte die britische Regierung die sofortige Freilassung von Diana Houston. 72 Stunden später saß sie im Flugzeug nach Großbritannien. Die deutsche Regierung wollte lange von der Entführung nichts wissen. Elizabeth Käsemann wurde von den Militärs ermordet. Ihr Vater, der Tübinger Theologieprofessor Ernst Käsemann, mußte 26.000 US-Dollar bezahlen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt zu bekommen.

Kurz vor Herzogs Staatsbesuch veröffentlichte die Deutsche Botschaft in Buenos Aires eine Erklärung: „Für die Deutsche Botschaft war während der schwierigen Zeit der argentinischen Militärdiktatur der Einsatz für Leib und Leben Deutscher und Deutschstämmiger vorrangig gegenüber allen anderen Erwägungen.“

Der argentinische Schriftsteller Osvaldo Bayer, der während der Militärherrschaft in Deutschland im Exil lebte, konterte in Pagina/12: „Hier lügt man zynisch.“ Wirtschaftliche Interessen standen den Deutschen näher als Menschenrechte. Siemens baute zwei Atommeiler in der Provinz Buenos Aires, und bei Volkswagen klingelte die Kasse dank der Geschäfte mit den Militärs.

Daher fordert der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der Ellen Marx in Berlin vertritt, daß die Archive der Botschaft und des Auswärtigen Amts geöffnet werden, um nachzusehen, wie sehr sich die Botschaft in Buenos Aires für die verschwundenen Deutschen eingesetzt hat. „Die Botschaft hat immer gesagt, sie würde bei der argentinischen Regierung regelmäßig über den Verbleib der Verschwundenen nachfragen, da wäre es doch einmal interessant nachzulesen, was für Antworten sie erhalten hat“, meint Kaleck. Selbst für die Mütter der Verschwundenen bleiben die Akten verschlossen.

Ellen Marx sah ihre Tochter Leonore zum letzten Mal am 21. August 1976, als die 20jährige sich aufmachte, um Aktivisten einer peronistischen Basisgruppe zu treffen. Doch das Haus, in dem die Gruppe regelmäßig zusammenkam, wurde zur Falle. Fünf Tage lang hielten sich dort Polizisten versteckt und nahmen jeden fest, der durch die Tür trat. Das Verbrechen der jungen Leute: Sie haben versucht, in den Villas Miserias, den Barackensiedlungen von Buenos Aires, die Armen zu organisieren. Von den fünf Peronisten, die in dem Haus festgenommen wurden, sind später alle wieder freigelassen worden. Leonore Marx ist die einzige, die verschwunden blieb.

Ihr Fall wurde niemals aufgeklärt, daher will Ellen Marx die Militärs jetzt in Berlin anzeigen. Doch selbst bei hinreichendem Tatverdacht ist es unwahrscheinlich, daß ein Verfahren in Deutschland gegen die argentinischen Offiziere eröffnet wird, da laut Strafgesetzbuch niemand in Abwesenheit verurteilt werden kann. Zwar könnte ein internationaler Haftbefehl ausgestellt werden, doch solange die Beschuldigten Argentinien nicht verlassen, haben sie nichts zu befürchten. „Trotzdem ist es wichtig, weil Wahrheit und Gerechtigkeit als globale Begriffe erhalten bleiben müssen“, sagt Ellen Marx.

Im Mai 1939 ging die Berlinerin, aus Deutschland kommend, im Hafen von Buenos Aires von Bord. Als Jüdin durfte sie bei ihrer Ausreise aus Nazideutschland zehn Mark mitnehmen, das war alles. Ihre Mutter wurde in Auschwitz vergast, ihre Schwiegereltern und ihr Großvater starben in Theresienstadt. Im Buch der Stadt Mainz, wo die Eltern ihres Mannes herkommen, so hat sie erst kürzlich erfahren, steht noch heute über die Familie: „Im Jahre 1943 Wohnsitz nach Theresienstadt verlegt.“ Deswegen, sagt Ellen Marx, „muß man immer den Mund aufmachen und die Wahrheit sagen“. Genau erinnert sich Ellen Marx noch an ihre alte Berliner Adresse: Oranienburger Straße 21.

Der Mörder läuft frei herum

Ihre Tochter Leonore wurde in Buenos Aires geboren und als Argentinierin erzogen. „Wir brauchten einige Zeit, um wieder mit Deutschland in Beziehung zu treten“, so Ellen Marx. Der Name Leonore kommt aus der Oper „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven.

Daß Leonore Marx Jüdin war, läßt für ihre Haftzeit das Schlimmste befürchten. Auch ihr Nachname „Marx“ wird die Militärs auf sie aufmerksam gemacht haben. Gleich nach dem Verschwinden ihrer Tochter machte sich Ellen Marx zu Fuß auf den Weg, um ihre Tochter zu suchen. Sie fragte in Kasernen nach, bei Krankenhäusern und Polizeistationen. Doch überall bekam sie dieselbe Antwort: „Ihre Tochter wurde nicht festgenommen.“

In Wirklichkeit war Ellen Marx zwei Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter nur wenige Meter von ihr entfernt – ohne es zu wissen. Als sie sich auf dem 42. Kommisariat im Stadtteil Mataderos nach ihrer Tochter erkundigte, bekam sie wieder ein verlogenes Schulterzucken zur Antwort. Doch Leonore Marx saß zu dieser Stunde in einer Zelle auf dem Revier. Das berichtete der Mitgefangene Alberto P., der die Haft überlebte.

Das Wortprotokoll des Mannes konnte Ellen Marx allerdings bei ihrer jahrelangen Suche in unzähligen Archiven nicht finden. Erst vor zwei Wochen stieß sie gemeinsam mit ihrem aus Berlin angereisten Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck auf das Papier. Diese Aussage von Alberto P. ist das letzte Lebenszeichen von Leonore Marx. Danach verliert sich ihre Spur.

Ellen Marx ist heute 78 Jahre alt. Wer ihre Tochter ermordet hat, ob sie gefoltert und wo sie getötet wurde, weiß sie bis heute nicht. Ziemlich sicher ist nur, daß der Mörder noch lebt und daß er dank des Amnestiegesetzes noch frei herumläuft. Vielleicht wohnt er nur einige Blocks von ihrer Wohnung entfernt und kauft beim selben Bäcker ein. Er ist ein freier Mann ohne Gesicht.