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Kein Wachs, nur bessere Flügel

Stanley Kubrick, der Perfektionist, ist tot. Er rechnete nicht in Drehtagen, sondern in Monaten. Dann wurden Jahre daraus. Zuletzt konnte er „Eyes Wide Shut“ noch beenden. „AI“, seine Filmvision zur „Artificial Intelligence“, wird freilich niemand mehr sehen  ■ Von Niklaus Hablützel

Zu den Preisverleihungen, die sich in den letzten Jahren häuften, ließ er sich entschuldigen. Den Goldenen Löwen von 1997, verliehen für sein Lebenswerk, nahm die Schauspielerin Nicole Kidman für ihn in Venedig entgegen. Als ihm im Frühjahr desselben Jahres die Vereinigung der amerikanischen Regisseure ihren Griffith-Preis zuerkannt hatte, die Ehrung, die erst nach ein paar gewonnenen Oscars vergeben wird, schickte er eine Videoaufzeichnung seiner kurzen Rede. Er habe zu arbeiten, ließ er elektronisch vermittelt ausrichten, und bei Griffith müsse er an Ikarus denken. Allerdings frage er sich, ob diese alte Sage allein so zu verstehen sei, wie man es in der Schule lernt, nämlich als Warnung vor Höhenflügen. Er glaube vielmehr, sagte Stanley Kubrick, daß man sie auch so lesen könne: „Vergiß das Wachs und die Federn, mach die Flügel besser.“

Darsteller und Kameraleute vor allem wissen, wie furchtbar ernst Stanley Kubrick diesen Satz nahm. Zum Scherzen war er nie aufgelegt, seine einzige Komödie heißt „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“. Komisch ist sie gewiß, niemals hat Kubrick die Regeln eines Genres verletzt, aber sie ist nicht lustig. Sie ist böse, zynisch und war eine politische Provokation im Entstehungsjahr 1964, kurz nach der Kuba-Krise. Kubrick wollte seinen Hauptdarsteller Peter Sellars vier Rollen zugleich spielen lassen. Sellars wurde krank, es blieb bei drei Rollen, andere, größere Störfälle sind aus den Drehtagen dieses Films nicht überliefert, auch darin ist er eine Ausnahme in Kubricks Werk. Denn der rechnete nicht in Drehtagen, sondern in Monaten.

Es wurden manchmal Jahre daraus. Für „Barry Lyndon“, die Kostümromanze aus dem 18. Jahrhundert, durften auch die Innenräume nur mit Kerzen und Öllampen ausgeleuchtet werden. Soeben entwickelte Speziallinsen der Nasa machten es möglich, auch unter solchen, bisher für unmöglich gehaltenen Bedingungen zu filmen. Für eine einzige Szene mußte Ryan O'Neal 42mal gegen seinen Filmrivalen, den Schwiegersohn Lyndons, fechten. Noch Jahre danach erinnert sich Kubricks Kameramann John Alcott mit Schrecken an diese Zeit und ist glücklich, daß er in dem Vietnam-Drama „Full Metal Jacket“ nur „manchmal“ eine Szene über 30mal drehen mußte, „meistens kamen wir mit etwa 15 Wiederholungen aus“, sagte er, als der Zorn über die Zumutungen seines Regisseurs verraucht war. Kubrick nämlich lasse nicht nur wiederholen, ganz allmählich vielmehr entstehe in dieser Weise aus dem bloßen Entwurf, dem Thema einer Szene etwas Außerordentliches. Eine Szene von Kubrick eben, vollendet bis zur Eiseskälte eines Diamanten, dauerhaft und nicht zu überbieten. Vergiß das Wachs und die Federn, mach die Flügel nicht nur besser, mach überhaupt erst Flügel.

So gefürchtet, verehrt und bewundert dieser untersetzte, gedrungene Mann bei der Arbeit war, so unbekannt war sein Leben. Niemand außer seiner dritten Ehefrau scheint ständig und enger in seiner unmittelbaren Umgebung gelebt zu haben. Der Glanz von Hollywood interessierte ihn nicht, lediglich als Steven Spielberg, Francis Ford Coppola, Martin Scorsese, George Lucas und Woddy Allen 1990 eine Stiftung zur Restauration alter Filme gründeten, war auch Stanley Kubrick dabei. Sonst lebte er zurückgezogen in seinem Haus in der Nähe Londons, lebte für seine Arbeit, und völlig überraschend kam deswegen am Sonntag abend die Nachricht, daß Stanley Kubrick im Alter von 70 Jahren verstorben sei. Irgendwelche besonderen Umstände seines Todes seien nicht feststellbar, meldete die zuständige Ortspolizei.

Welchen Verdacht könnte sie gehabt haben? Einer der ganz großen Männer des Kinos hinterläßt ein unvergängliches Lebenswerk, sein letzter Film „Mit weit geschlossenen Augen“, nach Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ aus dem Jahr 1926, ist fertig geschnitten und soll im Sommer in die amerikanischen Kinos kommen. Allzugroß freilich ist dieses Gesamtwerk nicht. Mehr als 19 Filme hat dieser Berserker der Perfektion in 49 Jahren nicht vollenden können. Er war am 26. Juli 1928 in der Bronx, New York, geboren worden, mit 13 Jahren bekam er eine Kamera geschenkt, arbeitete dann als Fotograf vor allem für das Magazin Look und drehte 1950, mit 22 Jahren, seinen ersten Film, eine kurze Dokumentation über einen Boxer. Zwei weitere Kurzfilme folgten, 1953 gelang ihm mit „Furcht und Begehren“ der Sprung nach Hollywood. Als Kirk Douglas ihn 1957 für seinen Kriegsfilm „Wege zum Ruhm“ als Regisseur verpflichtete, gehörte er endgültig zu ersten Garde, aber schon „Spartacus“, der nächste Film mit Douglas, vertrieb ihn aus Kalifornien. Er überwarf sich während der Dreharbeiten mit beinahe allen, schließlich auch mit seinem Gönner Douglas. Kubrick übersiedelte nach England, in die Nähe der Pinewood- Studios von London.

Nur hier vielleicht, in der freiwilligen, aber mit den modernsten Produktionsmitteln ausgestatteten Isolation konnen die Filme entstehen, die Kubrick noch über den in Hollywood üblichen Maßstab hinausheben: „2001 – Odyssee im Weltraum“ und „Clockwork Orange“. Oberflächlich betrachtet, schien Kubrick kein festes Thema zu haben. Er fand seine Stoffe überall, bei Nabokov für „Lolita“, bei William Thakery für „Barry Lyndon“, bei Schnitzler oder Stephen King für „Shining“, den die Kritik eher enttäuschend fand, wenngleich er beim breiten Publikum vom Ruch des Intellektuellen loskam. Auch hier hatte Kubrick versucht, dem Genre des Horrorfilms neue, bessere Flügel zu verleihen. Sie tragen nicht so recht in diesem Fall, denn was Kubrik über alle Grenzen hinaus trieb, war nie der Stoff, niemals der Roman, sondern die ihn unendlich fasziniernde Verwandlung einer Erzählung in Bilder. In konstruierte Bilder, in Bilder sogar, die bisher jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen. Dazu brauchte er die Studios und die Ruhe des Landlebens.

Die Bilder aber fand er im Weltraum und in einer Gesellschaft, deren Moral die pure Gewalt ist. Nur dort konnten sie existieren, und Kubrick baute sie in den Pinewood- Studios nach, er komponierte sie eher als Symphonie und Ballett denn als Film. „2001“ von 1968 und „Clockwork Orange“ von 1971 sind für Kubricks Verhältnisse kurz nacheinander entstanden. Sie gehören etwa so zusammen wie die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft bei Kant, tatsächlich enthalten sie Kubricks Philosophie des Films jenseits der menschlichen Psychologie. Beide sind deshalb zunächst Meisterwerke der filmtechnischen Ingenieurkunst – die Drehjahre der Odyssee im Weltraum sind Legende. Aber sie sind auch noch mehr als das. Sie enthalten Bilder, die Ikonen sind, vergleichbar nur noch mit Humphrey Bogart auf dem Rollfeld von Casablanca oder Charlie Chaplin im Räderwerk der Industrie von „Modern Times“. Solche Szenen kondensieren ein bloßes Gefühl zu einer allgemeingültigen Tatsache. Das rote Auge des Computers HAL, die Raumschiffe, die im Walzertakt durch den leeren Raum kreisen, oder das Grinsen im weißgeschminkten Gesicht von Malcom McDowell sind ihre Nachfolger. Sie bleiben haften, sie kehren wieder im Gedächtnis als Muster für all die anderen Erfahrungen. So sieht das absolut Böse aus, so der allmächtige Computer und so der Weltraum. Ein Kubrick mußte uns das zeigen, mit der Blauen Donau von Johann Strauß oder der 9. Sinfonie von Beethoven.

Für den Computer reichte ihm sogar eine einzige rote Linse. Er wollte nicht, daß dies sein letztes Wort zu diesem Thema bleibe. Seit Jahren arbeitete er an einem Projekt, das er „AI“ nannte, für „Artificial Intelligence“. Er hatte es schon aufgegeben, wie viele andere seiner Projekte, die er über Jahre verfolgte, zum Beispiel den Film über Napoleon. Doch als er Spielbergs „Jurassic Park“ gesehen hatte, nahm er die Vorarbeiten für AI wieder auf. Jetzt erst schienen ihm die technischen Möglichkeiten fortgeschritten genug, um diese letzte Konsequenz seines einzigen Lebensthemas zu ziehen: den Film über die Künstliche Intelligenz, den Film ohne Menschen. Niemand wird ihn sehen. Er hat ihn mitgenommen. Für immer.

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