: „Frauen haben einen Vorsprung“
■ Großer Andrang im neuen „Institut für chinesische Medizin“ / Viele Patienten hoffen auf das richtige Kraut und den Volltreffer mit der Nadel / Die Behandlung chronisch Kranker kann ins Geld gehen
Hoffnungslose Fälle. Den einen quält seit Jahren ein juckender Hautausschlag. Den nächsten drangsaliert, so lange er denken kann, ein Stechen in der Backe. Die Ärzte verschreiben Hammersalben und dämpfende Pillen. Das lindert vielleicht, aber der Mensch bleibt krank. Chronisch krank. Und dann gibt es auf einmal leibhaftige chinesische Mediziner in der Stadt, spezialisiert auf hoffnungslose Fälle, an denen die „westliche Medizin“ scheitert, und da wird gedrückt und gepiekst und Kräutersaft ausgeschänkt, und von erstaunlichen Heilerfolgen wird getuschelt. Wundert es dann, daß die Leute auf ein Wunder hoffen? Nein, das wundert nicht, die Leute sind so. Wer mehr kann als der deutsche Facharzt, muß ein Wundermann sein.
In Bremen gibt es seit genau 56 Tagen ein Institut für Chinesische Medizin, angesiedelt auf dem Gelände des St. Jürgen Krankenhauses, organisiert vom Deutschen Roten Kreuz, Kreisverband Bremen. Das Zentrum des Instituts ist die Praxis für chinesische Medizin. Und seit die Nachricht von der Ankunft der Professoren Chen und Lin rund ist, klingelt im Institut das Telefon, daß man dort schon von einem Patientenansturm redet. Aus Hamburg kommen die Leute angereist. Nehmen Unkosten in Kauf (die Kassen bezahlen nur in Ausnahmefällen) und Wartezeiten (freie Termine erst wieder im April).
Die Anmutung in den Räumlichkeiten des Instituts ist einwandfrei „chinesisch“. So stellt sich Lieschen Müller die Praxis vom Chinamann vor: Rollbilder mit Bäumen, schwungvoll bedachten Häusern und hochtoupierten Damen drauf, chinesisches Schnitzwerk, rote Papierampeln, eine Vase mit Zweigen, an denen Zettel hängen, darauf chinesische Neujahrswünsche. Herr Lin, der eine Art weiße Bademütze auf dem Kopf trägt, lacht über das Enterieur, das er für den Behandlungserfolg nicht bräuchte. „Das ist nur für Sie.“
Und dann nutzt er die Chance, einiges klarzustellen. Zum einen sei er kein Wunderdoktor. Die chinesische Medizin sei eine Wissenschaft, die sich ständig weiterentwickele. Die an schweren Fällen, die die westliche Medizin überfordern, ebenfalls scheitern könne. Was auf jeden Fall eine falsche Hoffnung sei: daß die chinesische Medizin Menschen, die seit Jahren chronisch krank sind, schnell heile. Übrigens sei die Geschichte von den chinesischen Ärzten, die ihr Geld nur bekämen, solange der Patient gesund bliebe, falsch. Was allerdings stimme: In China konsultiere man den Arzt auch ohne Krankheit, zum Beispiel im Winter, um die „Reserve aufzufüllen“.
Prinzipiell behandelt chinesische Medizin alle Leiden. Herr Lin und sein Kollege Chen beschränken sich allerdings aus praktischen Gründen auf Schmerzpatienten (Kopf, Gelenke, Rücken) und Menschen mit Hautkrankheiten, unspezifischen Organproblemen, Rheuma, Frauenleiden und Allergien. Hier versprechen die traditionellen Kräuterelexiere, die den Mittelpunkt der Therapie ausmachen, am besten anzuschlagen. Erst in zweiter Linie werden Nadeln, Schröpfgeräte, Wärmebehandlungen und Massagen eingesetzt.
Warum, weiß Herr Lin selbst nicht: Aber es ist eine Tatsache, daß ganz überwiegend Frauen in seine Sprechstunde kommen. „Frauen haben einen Vorsprung,“ mutmaßt er und lacht. Er lacht gern und wirkt ohnehin, als hätte er seinen Energiehaushalt yin-und-yang-mäßig gut ausbalanciert. Offenbar weiß, wer einmal im Krankenhaus von Shanghai gearbeitet hat, mit Stress umzugehen. Kinder sind bisher übrigens selten gekommen, vielleicht weil sie ungern gepiekst werden oder die Medizin zu bitter ist.
Wer zum ersten Mal in die Sprechstunde kommt, muß eine Stunde Zeit mitbringen und 50 Mark, so viel kostet die Diagnose. Dann wird er zunächst „westlich“ untersucht, etwa vom pensionierten ärtzlichen Direktor des St. Jürgen Krankenhauses, Dr. Gunschera, nun einer der ärztlichen Leiter des Instituts. Es folgt die chinesische Diagnose, die sich ausführlich zum Beispiel dem Puls oder der Zunge widmet. Behandlungen kosten dann von 40 Mark (zehn Minuten Diätberatung) bis 140 Mark (chinesische Massage und Rezept). Bei der Behandlung chronisch Kranker kommt gern viel Geld zusammen. Die Kräuter sind auch nicht gerade billig. Einige Kassen zahlen auf Antrag einen Teil der Schmerzbehandlung.
Die Idee eines solchen Instituts, das nicht nur Arztpraxis sein soll, sondern künftig auch ein Ort der Aus- und Fortbildung und der Forschung, entstand im Vorstand des Bremer Roten Kreuzes, das schon lange mit dem chinesischen Roten Kreuz zusammenarbeitet. Man gewann Uschi Hähn, Sinologin und Heilpraktikerin, die zunächst nur dolmetschte, als Institutsleiterin. Übersetzen muß sie auch heute noch, denn die beiden chinesischen Ärtze sprechen kein Deutsch. Sie arbeiten in Bremen als Gastärzte für ein Jahr. Dann rücken Kollegen aus Shanghai nach.
Die Gretchenfrage, ob sich chinesische Medizin und deutsche Mentalität überhaupt vertragen, betrachtet Professor Lin entspannt. Chinesische Medizin ist keine Heilslehre. Es gehe gar nicht darum, die deutsche Lebensweise zu kritisieren oder umzukrempeln. Und daß man mit chinesischen Kräutern ein hohes Alter erreicht (chinesischer Neujahrswunsch), sei nicht garantiert. Vielleicht heißt Balance von Yin und Yang auf Deutsch: „Leben, wie es gefällt, ohne auszuufern.“ Selbst den westlichen Weg zum hohen Alter, das notorische Glas Rotwein am Abend, hält Herr Lin für möglich. Um genau zu sein: für „nicht zu schlimm“. BuS
Info: Tel. 0421/497-4640
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