In Istanbul geht die Angst vor Terror um

13 Menschen sterben bei Attentat auf ein Kaufhaus. Der von der PKK angekündigte „Krieg in den Metropolen“ hat die Stadt am Bosporus erreicht. Nun droht außerdem noch ein politisches Chaos  ■   Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Überall in der kleinen Halle der Fähranlegestelle auf der Insel Büyükada klebt ein kopiertes DIN-A 4 Blatt. Auf dem Zettel prangt der mißlungene Versuch eines Polizeizeichners - ein bärtiges Gesicht, in der Realität kaum wiederzuerkennen. „Vor zwei Tagen“, steht auf dem Blatt, „wurde dieser Mann beobachtet, wie er sich an den Rettungswesten einer Fähre zu schaffen machte und dort offenbar etwas verstecken wollte“. Wer verdächtige Personen sieht, soll diese dem Personal melden. Bevor man die Fähre betritt, werden Taschen durchsucht und jeder wird mit einem Metalldetektor abgetastet. Sicherheitschecks wie am Flughafen. Auch in Bussen kontrolliert die Polizei regelmäßig.

Alle großen Plätze der Stadt werden überwacht, im Umfeld von Regierungsgebäuden dürfen keine Autos mehr geparkt werden. Doch diese Maßnahmen sind Illusion. Der Terror hat Istanbul erreicht. In der Stadt geht die Angst um.

Samstagnachmittag, Haupteinkaufszeit, Hektik und überfüllte Straßen. Eine Gruppe Bewaffneter stürmt in ein Bekleidungskaufhaus in Göztepe, auf der asiatischen Seite Istanbuls. Mit vorgehaltener Waffe werden die Leute in die oberen Stockwerke getrieben, Benzin wird ausgeschüttet und drei Molotow - Cocktails ins Erdgeschoß geworfen. In Sekundenschnelle schlagen die Flammen alle sechs Stockwerke hoch. Es gibt keine Feuerleiter, zwei Personen verbrennen, elf ersticken im Rauch, die anderen werden von der Feuerwehr herausgeholt.

Später meldet sich ein anonymer Anrufer beim Massenblatt Hürriyet und behauptet, eine Gruppe „Rache für Apo“ habe den Anschlag verübt. Apo ist der Spitzname des inhaftierten Chefs der Kurdischen Arbeiterpartei, Abdullah Öcalan. Der Terroranschlag am Samstag ist der traurige Höhepunkt einer Woche, in der es am Sonntag zuvor bereits zu einem Massaker hätte kommen können.

Beim Fußball-Lokalderby zwischen Galatasarey und Fenerbahce, den beiden größten und populärsten Clubs der Türkei, soll nach einem Zeitungsbericht eine versteckte Handgranate nur durch einen glücklichen Zufall nicht gezündet haben.

Am Mittwochnachmittag gibt es hingegen einen Toten: Vor einem Einkaufzentrum fliegt ein Taxi in die Luft und setzt etliche andere Autos in Brand. Der Taxifahrer ist sofort tot, wie durch ein Wunder gibt es sonst nur Verletzte. Am Mittwochabend um 9 Uhr, die Geschäfte sind noch geöffnet, geht vor einem anderen Einkaufszentrum die nächste Bombe hoch. Wieder brennen Autos, aber niemand kommt ums Leben. Zu diesen beiden Anschlägen bekennt sich eine bis dahin unbekannte „Kurdische Rächergruppe“.

Am Donnerstag berichtet die Polizei, man habe zwei Rohrbomben gefunden und rechtzeitig entschärfen können. Am Samstag, fast zeitgleich zu dem Anschlag auf das Kaufhaus, wird im Westen der Stadt eine Rohrbombe aus einem Auto heraus auf ein Café geworfen, prallt aber von der Scheibe ab und richtet keinen Schaden an.

Nachdem in den ersten zwei Wochen nach der Festnahme Öcalans lediglich in den kurdisch besiedelten Slumvierteln wie Gahzi oder Ümraniye Barrikaden brannten und Autobusse angezündet wurden, ist in der letzten Woche die gesamte Metropole am Bosporus, in der fast 15 Millionen Menschen leben, zum potentiellen Attentatsziel geworden. Anschlagziele sind nicht mehr Polizeistationen oder Militäreinrichtungen, sondern Orte, die offenbar danach ausgesucht werden, wo die meisten Opfer zu erzielen sind und die Täter relativ leicht verschwinden können.

Nach den bisherigen Bekenneranrufen sind die Täter nicht klar zu definieren. Während sich die linksradikale Splittergruppe TIKKO, die eng mit der PKK liiert ist, zu dem Attentat auf den Gouverneur in der Woche zuvor bekannte, kann sich hinter den „Kurdischen Rächern“ jeder verbergen. Die PKK hat sich zu den Anschlägen bislang nicht geäußert. Der erste Bekenneranruf bei Hürriyet klang so, als habe sich eine Gruppe, die die PKK als zu zurückhaltend kritisiert, entschlossen, auf eigene Faust zuzuschlagen.

Für die Massenblätter spielen diese Details keine Rolle. Für Hürriyet haben „die Hunde“ zugeschlagen und auch die Kollegen des ermordeten Taxifahrers machten die PKK für den Anschlag verantwortlich. Der sogenannte „Krieg in den Metropolen“, den die PKK seit längerem angedroht hat, hat Istanbul erreicht.

Während in der Bosporus-Metropole das Kaufhaus brannte, tagte in Ankara das Parlament zu einer Sondersitzung. Eine Gruppe von „beleidigten Abgeordneten“, wie sie hier genannt werden, hatte es mit Unterstützung der islamischen Fazilet-Partei geschafft, die Sondersitzung zu erzwingen. Ziel der Abgeordneten, die aus unterschiedlichen Parteien kommen und miteinander lediglich verbindet, daß sie von ihren Parteichefs für die kommenden Wahlen nicht wieder aufgestellt wurden, ist es, die für April geplanten Wahlen noch einmal zu kassieren.

Am Samstag bekamen sie genügend Stimmen zusammen, um das Parlament erneut zusammen zu rufen. Morgen beginnt eine außerordentliche Sitzungswoche.

Damit kommt der gesamte Fahrplan für die Wahlen ins Rutschen und könnte letztlich das Chaos im Land komplett machen. Wütend sprach Ministerpräsident Ecevit von einem „zivilen Putsch“.