: Lucys eiskaltes Händchen
■ Im Postamt 5 brummen und wackeln unsere zotteligen Vorfahren, als wären die Ausstellungsmacher dabeigewesen / Botschaft: Wir sind allesamt Neandertaler
Beerdigung bei Neandertalers. Herzergreifendes Trauerbrummen der Familie, in einer Grube liegt der Tote. Vater hebt den Arm und läßt ihn hilflos sinken, Mutti blickt tränenfeucht und wackelt mit dem Kopf, der Kummer ist grenzenlos. Doch das Leben geht weiter. Draußen treffen sich Neandertalfräulein mit Brennholz und Neandertalbursche mit Hinkelstein. Sie: „Taloäluo. Üdel hoga.“ Er: „Holin go aio dollowai!“
„4 Millionen Jahre Mensch“ heißt eine Ausstellung im Postamt 5, die soeben eröffnet wurde. Sowas kommt dabei heraus, wenn sich Anthropologen, Spezialisten für elektronisch animierte Figuren und Marketingprofis auf eine Ausstellungskonzeption einigen müssen: Disney mit Anspruch. Edutainment.
Ob Neandertaler vor 50.000 Jahren sprachen und ob es sich wie Finnisch anhörte; ob die Schambehaarung des Australopithecus tatsächlich bis zur Schulter reichte; und ob Homo erectus verglichen mit uns ein Dummkopf war – alles hochspekulativ. Ist aber auch nicht schlimm. Denn die augenrollenden und kopfwackelnden Wesen, die viel Affiges haben, aber im Zweifel aufs Grundgesetz pochen dürften, machen all das Gedöns nur, damit Schulkinder klassenweise in die Ausstellung kommen und hinterher schlauer sind.
Die Ausstellung funktioniert so, daß jedes der vier Dioramen – Australopithecus, Erectus, Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch – abwechselnd „lebt“ und dann Pause hat. Während die Zottelmenschen mittels Preßluft wackeln, erklärt ein namhafter Wissenschaftler, was man sieht. In der Pause liest man die Informationen durch und kuckt sich Schädel und andere Knöchelchen an. Danach zieht's einem zum nächsten Hyänengeschrei.
Seit 1996 tourt die Ausstellung durchs Land. In zwanzig deutschen Städten war sie zu sehen, darunter in Hamburg und Berlin. Duplikate der Australopithecus-Frau knüppeln auch in anderen europäischen Ländern blutgierige Hyänen nieder. Die Deutschland-Tournee der in den USA gebastelten Schau organisiert die Nordstar GmbH, der wir schon die Wale-Ausstellung verdankten. In Bremen rechnet Organisator Jürgen Darmer mit über 100.000 Besuchern, in erster Linie Schülern, deren Lehrern das Thema in den Lehrplan paßt.
Klar findet man auch allerlei Knöpfe zum Drücken, wie man das heute so hat. Da gibt es Ratespiele, ein Laufband, das, wenn man sich Mühe gibt, einen krummen Affenartigen immer mehr aufrichtet. Und wenn Jan-Uwe in gewisse Löcher blickt, blickt ein Neandertalerbub zurück, der Jan-Uwes Züge trägt.
Spätestens da wird klar, was die Botschaft der Ausstellung ist: Wir sind letztlich allesamt Neandertaler geblieben. Damit wir das kapieren, hat man einem 50.000 Jahre alten Zausel eine Jeans angezogen, daß man ihm auf der Obernstraße kaum hinterhersehen würde. Und am Schluß sind Tante Erna und Onkel Jupp ausgestellt, die hängen auf einem Sofa vor der Glotze und fressen Chips. Jetzt soll man ganz bescheiden werden und denken: So sehr weit haben wir's nicht gebracht.
Es gibt auch ein anrührendes Erlebnis: Man kann an einer Stelle Lucy die Hand drücken. Hach, des Australopithecus-Mädels eiskaltes Händchen! Lucy hätte man schon mal gern näher kennengelernt. BuS
Postamt 5 am Hauptbahnhof. Geöffnet tgl. (selbst Ostern) 10 bis 18 Uhr. Eintritt 12 Mark, Kinder bis 13 Jahre 8 Mark, Klassen 5 Mark pro Nase. Läuft bis 6.6.1999.
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