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Unterwegs im holländischen Windkanal

■ Der Trip über den Abschlußdeich ist für viele Fahrradfahrer Kult und Verpflichtung zugleich - doch bei Gegen- oder Seitenwind kaum zu schaffen. Daß Radfahrer auf dem Afsluitdijk auch schon erschossen w

Geschichten vom Abschlußdeich sind Geschichten von Heldentaten und vom Scheitern. Von zermürbenden Winden und von tückischen Böen. Und von blauen Bohnen aus allen Himmelsrichtungen. Allerdings nur dann, wenn sie ein Radler erzählt – oder Janwillem van de Wetering. Der Afsluitdijk, das holländische Jahrhundertbauwerk, das auch mit dem Rad zu befahren ist: 30 Kilometer lang und schnurgerade. Es hat die stürmische Nordseebucht Zuidersee ins süßwasserhaltige IJsselmeer verwandelt. Der Wind aber heult wie eh und je. Wenn er direkt aus der Gegenrichtung angreift, kann es bitter werden. Einer meiner Freunde zum Beispiel will schon nach fünf Kilometern kurz vorm Kollaps gestanden haben, wollte aber beweisen, daß er kein Weich- beziehungsweise Windei ist. Also die kleinste Übersetzung gewählt und die restlichen 25 Kilometer im Wiegetritt absolviert. Einer kam durch. Erzählt er immer wieder, mit leuchtenden Augen. Kann man glauben oder nicht.

Ganz bestimmt ausgedacht (oder vielleicht doch nicht?) ist dagegen die Schießerei, in die der Polizist Simon Cardozo geriet, mitten auf dem Deich. Er überlebte, sechs ausländische Radler blieben auf der Strecke. Aufgeschrieben vom niederländischen Krimi-Autor van de Wetering („Rattenfang“). Sein Protagonist hatte übrigens vor, von Amsterdam nach Leeuwarden zu fahren, eine Route von mindestens 180 Kilometern. Dienstlich. Ein Vorhaben, das selbst im radverliebten Holland ungewöhnlich ist. „Mit dem Fahrrad“, wurde Cardozo von einem der Kollegen ungläubig gefragt, „und dann auch noch über den Abschlußdeich bis nach Friesland? Da fährt man doch wenigstens einen Tag? Willst du etwa für die Tour de France trainieren?“

Ich will das nicht, starte aber ebenfalls in Amsterdam. Es gibt wohl kaum eine andere europäische Metropole, in der man so schnell ins radlergerechte Grün gelangt. Hinterm Hauptbahnhof einfach rüber über die Straße und rauf auf die Fähre nach Adam-Noord, die Überfahrt über das IJ ist kostenlos. Drüben eine andere Welt: kleinstädtische Idylle mit viel Grün und viel Kanal. Und hinterm Volendammerweg gleich die holländische Prärie, durchzogen von wunderbar geteerten Feldwegen. Gräben rechts und links, ab und zu ein Trecker. Und immer wieder die nicht zu übersehenden Schilder, die auf Direktverbindungen, den Radschnellverkehr oder auf ruhigere Nebenrouten hinweisen. Hier hat das noch keine Bedeutung, aber später: Da führt die erste Kategorie auch schon mal an Autostraßen entlang und darf auch von Bromfietsen, Mopedfahrern, benutzt werden. Brumm, brumm.

Gott sei Dank läßt sich das IJsselmeer auch über einen beschaulichen Weg erreichen. Erste Rast in Volendam, in der Saison nichts anderes als ein überlaufener Yachthafen. Überall an der Mole wird schon nachmittags die Einheits-CD zu Gehör gebracht, irgendein Sampler mit den Beach Boys und dem jungen Tom Jones. Da geht den Freizeitkapitänen das alte Herz auf. Die tradtitionsbewußten Eingeborenen – Männer in Pluderhosen und Frauen mit gestreifter Schürze und Spitzenhaube – ertragen es stoisch. Sowohl von Volendam als auch vom südlicher gelegenen Monnickendam schippert ein Fährschiff zur Insel Marken, die am Anleger mit einem Museumsfischerdorf aufwartet und ansonsten etwas karg wirkt. Was die Touristen überhaupt nicht stört. Die Boote nehmen Fahrräder mit, so daß man über den Verbindungsdamm alsbald wieder aufs Festland flüchten kann.

Da ist Edam, fünf Kilometer nördlich von Volendam gelegen, schon anders. Obwohl als Käsestadt weltberühmt, kommen Reisende hier nur zum Kaffeetrinken her und allenfalls zum Abendessen. Ein ruhiges, aufgeräumtes Amsterdam en miniature. Gleich dahinter beginnt dann die Deichstraße, die fast ständig dem Küstenverlauf des IJsselmeeres folgt. 20 Kilometer bis nach Hoorn, einer Stadt mit 60.000 Einwohnern und ausufernden Hafenbecken mit Hunderten von Yachten, runde 40 Kilometer bis Enkhuizen. Der Weg schlängelt sich fast immer unterhalb des Deiches entlang, so daß man selten das Wasser aufblitzen sieht. Dafür wird man linker Hand mit der Weite der grünen Landschaft entschädigt. Es sind zwar auch einige Autos und Motorräder unterwegs, die Radfahrer aber dominieren. Bei guten Wind- und Wetterverhältnissen vor allem die Rennradfahrer. Viele Heineken- Bäuche im original Rabobank-Trikot. Bergwertungen fallen hier naturgemäß flach, da können sie mal so richtig schön die Pace machen. „Going with the wind“, erzählt mir einer der etwas langsam Fahrenden. Bei den vorherrschenden Westwinden in Holland ist in dieser Richtung mit ausgesprochenem Gegenwind selten zu rechnen, bläst's aus Südwest, könnte man sogar die Füße über den Lenker legen. So mancher der in Amsterdam gestarteten Hobby-Rennsportler verschmäht insofern auch die ausgeschilderten Rundkurse – zurück bläst einem ja der kalte Hauch ins Gesicht –, läßt sich lieber bis Enkhuisen treiben, der letzten Bahnstation auf dieser Seite des IJsselmeeres, und fährt komfortabel per Zug zurück.

Hinter Enkhuizen ist es aus mit der guten Ausschilderung für Radler. Doch einen Fietspad findet man überall, und spätestens ab Medemblik ist die Küstenstraße nicht mehr zu übersehen. Breit, fast schon langgezogen gerade wie die Straßen drüben in Flevoland und wunderbar einsam. Und schon passiere ich Den Oever, die Schleusenanlage am Anfang des Abschlußdeiches, die Stevin Sluizen. Benannt nach Hendrik Stevin, einem Mann aus dem 17. Jahrhundert, der sich bereits damals überlegte, wie man die Zuidersee von der Nordsee abtrennen konnte. Verwirklicht wurde schließlich ein Plan des Ingenieurs Cornelis Lely in den Jahren 1927 bis 1932. 4.000 bis 5.000 Mann waren täglich auf der Großbaustelle tätig. Nasse Knochenarbeit. Ihre Aufgabe: die Niederlande zu vergrößern, Wasser in Land zu verwandeln. Was sie geschafft haben. Ohne den Afsluitdijk, diese gigantische Absperrung, wäre es nicht gelungen, die riesigen Flächen östlich von Amsterdam einzupoldern, die heutige Provinz Flevoland mit ihrer Hauptstadt Lelystad. Typisch Holland, daß von Anfang an der Deich mit einem Fahrradweg versehen wurde. Und der auch nicht geopfert wurde, als sich die daneben verlaufende Straße zur Autobahn auswuchs.

Der Wind weht günstig, changierend zwischen Nordwest und West, treibt die Geräusch- und Abgasemissionen der Motorisierten von mir weg. Und mich treibt er raumgreifend voran. Tempo 25, trotz voller Radtaschen und eines Rucksacks auf dem Buckel. Dabei würde der Seemann höchstens von Windstärke vier sprechen: mäßige Brise. Die reicht jedoch aus, um den entgegenkommenden Bikern die Beine schwer zu machen. Mehr als 15 Stundenkilometer schaffen die meisten nicht. Verständlich, daß in diesem Windkanal bei stürmischen Böen selbst Zwei-Zentner-Typen gleichgewichtsgefährdet sind. Like a Bembel in the wind. Radfahrende Leichtgewichte sollen sogar schon mal auf die Autobahn geweht worden sein – auch so eine der gern kolportierten Geschichten. Gegenverkehr ist hingegen auf diesem Fietspad kein Problem, er ist breit genug, zweispurig mit Mittelstreifen. Von Noord-Holland aus gesehen verläuft der Radweg bis zur Schleuse auf der anderen Seite immer links. Den Blick auf das Wattenmeer verwehrt auch hier die Deichkrone, aber rechts, gleich hinter der Autobahn, glitzert das sich hier unendlich gebende IJsselmeer.

Schon nach ein paar Kilometern lohnt es anzuhalten, an der Stelle, wo 1932 der Damm endgültig geschlossen wurde. Hier erhebt sich ein Aussichtsturm, verharren in Bronze gegossene Deicharbeiter. Der Spruch darunter lautet: „Een volk dat leeft, bouwt aan zijn toekomst“ (Ein Volk, das lebt, baut an seiner Zukunft). Womöglich kurz dahinter geriet Hoofdagent Cardozo unter die Chinesen, insgesamt sechs, die in Dreiergruppen radelnd aus beiden Richtungen auftauchten und sich ausgerechnet auf dem Deichradweg ein Feuergefecht liefern mußten. Vier waren sofort tot, die restlichen zwei fielen einer herbeigeeilten Sonderheit zum Opfer. Cardozo kam mit dem Schrecken davon, eine Fortsetzung seiner Dienstfahrt per Fahrrad war indes nicht möglich – ein Krankenwagen war über selbiges gebrettert. Eine niederländische crime story, erzählt von Janwillem van de Wetering. Hart an der Realität orientiert.

Ich sehe weit und breit weder Chinesen noch Polizisten, drehe etwas auf und erreiche bald – mit 30 Stundenkilometern - die abschließende Schleusenanlage, die Lorentz Sluizen. Dort ist der Spaß noch lange nicht vorbei: Recht bald schon kann man auf den Nordseedeich wechseln. Auf seiner geteerten Seeseite fliege ich Harlingen entgegen. Diese Strecke ist garantiert autofrei, nur ein paar dösenden Schafen gilt es auszuweichen.

Jetzt bin ich in der Provinz Friesland, in Fryslan, wie sie sich seit kurzem offiziell nennt. Andere Sprache, angeblich andere Mentalität. Bis zur Hauptstadt Leeuwarden sind es noch 25 bis 35 Kilometer, je nachdem, welchen Zickzackkurs über die friesischen Dörfer man wählt. Auf alle Fälle ist's hier ein anderer Schnack: Feldwege, die als Landstraßen bezeichnet werden, und zwei, drei Häuser, die ein Dorf bilden. In Leeuwarden ist wieder alles normal. Die Stadt hat einen Bahnhof, selbstredend, Züge fahren nach Leer (umsteigen in Groningen) oder nach Amsterdam.

Aber natürlich könnte man auch zurückradeln, um den Abschlußdeich nochmals in Angriff zu nehmen. Dieses Mal gegen den Wind. Damit man endlich auch mal selbst eine garantiert windige Geschichte erzählen könnte: „30 Kilometer gegen den Wind gefahren, ach was, ich glaub', es war Sturm. Fast zusammengebrochen, aber durchgekommen!“ Paul da Chalet

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