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Die hohe Kunst des britischen Nachrufs

Die Kunst des Nachrufs in der Tagespresse stammt ursprünglich aus Großbritannien. In ihrer Originalform ist sie noch heute zum Beispiel in der Times zu bewundern: Mehrere lange detaillierte Stücke auf einer Seite, alle anonym verfaßt, in unterkühlter Darstellung mit einzig dem Namen der verstorbenen Person als Überschrift und einem kleinen Vorspann. Eine typische „Obituary Page“ der vergangenen Woche: Oben steht Garson Kanin, Hollywood-Filmregisseur; darunter nebeneinander Sir Peter Hope, britischer Ex-Diplomat und Geheimdienstler, und Bidu Sayao, brasilianische Sopranistin.

Die Nachrufe sind in einem ruhigem Ton der Zurückhaltung verfaßt; sie sollen vor allem weder Kontroverse noch Schmerz auslösen. Ihre Subjekte müssen keine Berühmtheiten sein – für die werden neben dem üblichen und dann besonders langen Nachruf oft noch mehrere „Tributes“ namentlich benannter Persönlichkeiten gestellt –, und die Todesfälle können durchaus auch schon etwas länger her sein. Die Times, wie andere britische Zeitungen auch, hat dafür eine eigene Nachrufredaktion, die vorausblickend Nachrufe verfaßt oder bestellt und laufend aktualisiert.

Manche Zeitungen, wie beispielsweise der Independent oder der Guardian, sind inzwischen zu namentlich gekennzeichneten Nachrufen übergegangen, bei denen der Verfasser mindestens genauso interessant sein kann wie der Verflossene. Wenn ein Politiker einen anderen betrauert oder ein Wissenschaftler posthum vom Kollegen beurteilt wird, ist das oft kontrovers. Darauf gibt es dann zuweilen Erwiderungen auf den Nachruf seitens der Leser, die ebenfalls auf der Nachrufseite erscheinen und sich im Idealfall zu regelrechten pluralistischen Nachrufserien entwickeln.

Auf diese Weise wird die Nachrufseite zum öffentlichen Forum zur Pflege des biographischen Erbes der Nation. Sie ist eine tagesaktuelle Vorform von historischer Debatte, die in Großbritannien – dem biographieverliebtesten Land der Welt – meistens eher entlang des Streits über biographische Fakten und Lebensläufe sowie über Motivationen für persönliche Entscheidungen entsteht und weniger im Rahmen einer Debatte über Theorien und Ideologien. D.J.

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