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Die große Idee der Gattin

Hermann Broch spannt sich in der erstmals publizierten „Psychischen Selbstbiographie“ in Freuds Koordinatensystem  ■ Von Christina Bylow

Wie einen „großen, schönen Vogel, aber mit gestutzten Flügeln“ sah Elias Canetti den um zwanzig Jahre älteren Hermann Broch. Im Sommer 1932 waren sie sich in Wien zum erstenmal begegnet. Canetti las aus seinem Drama „Hochzeit“, Broch, dessen Romantrilogie „Die Schlafwandler“ Canetti verehrte, befand sich im Publikum. „Sein Schweigen war eindringlicher als das der anderen“, notiert Canetti mehr als ein halbes Jahrhundert später in seinem Erinnerungsbuch „Das Augenspiel“.

Unter den physiognomischen Porträts, die Canetti hier entwirft, ist das Hermann Brochs am weitesten von der Anekdote entfernt. Es fiel ihm schwer, über Broch zu schreiben. In der Rückbesinnung durchkreuzen sich Bewunderung und eine fast überhebliche Nachsicht für die „Schwächen“ Brochs. Als fatalste galt ihm dessen Glaube an die Psychoanalyse. „Broch war Freud wirklich verfallen, auf religiöse Weise... er war von Freud durchdrungen wie von einer mystischen Lehre.“ Canetti, der die „psychoanalytische Verseuchung“ dieser Jahre schmäht, geniert sich für den anderen.

So unzuverlässig das Bild sein mag, das ein Schriftsteller vom anderen zeichnet – Hermann Brochs jetzt erstmals veröffentlichte „Psychische Selbstbiographie“ bestätigt Canettis Beobachtung. In diesem 1942 in Princeton geschriebenen Text spannt sich Broch selbst ins Koordinatensystem der Psychoanalyse. Ein Text, der gleich in doppelter Ausfertigung in den Broch-Nachlässen in Yale und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lag. Das Zwillingsdasein hat seinen Grund. Die „Psychische Selbstbiographie“ hatte, wie jede private Mitteilung Brochs, konkrete Adressaten. Broch, der ein obsessiver Brief-, aber kein Tagebuchschreiber war, legte den Text seinen Briefen an zwei Frauen bei.

Als Abschreckung der Frauen gedacht

Die eine, die Grafikerin Anne Marie Maier Graefe (1910–1994), wird er sieben Jahre später heiraten, die andere, die Journalistin Ruth Norden (1906–1977), lebte nach der Rückkehr aus dem Exil in Berlin. Mit beiden Frauen hatte Broch zur selben Zeit eine Liebesbeziehung. Daß die Verbindungen selbst nicht aufscheinen, betont den exemplarischen Charakter des Selbstporträts; die Tatsache, daß es Adressatinnen gab, bestimmte das Genre: Die „Psychische Selbstbiographie“ ist ein Frauen-Abschreckungs-Text, vielleicht der frappierendste, den es in der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts gibt.

Gleich zu Beginn des gut 90seitigen Typoskripts, das in der Suhrkamp-Ausgabe durch die bereits veröffentlichte „Autobiographie als Arbeitsprogramm“ ergänzt wird, präpariert Broch die innere Logik seiner erotischen Verhältnisse heraus: „In dem für meine Kräfte offenbar zu großen Aufgabenkreis, den ich mir eingerichtet habe, ist für das sogenannte Leben kein Platz zu finden, und so haben sich nur Zufallsbindungen ergeben können, mit denen die immerhin vorhandene Sinnlichkeit zu befriedigen war, und diese Bindungen waren dann eben jene, in denen ich gewählt worden bin, anstatt selber zu wählen. M.a.W., der Partner wird akzeptiert nicht um seiner selbst willen, sondern weil er mit seiner Liebesbereitschaft eben gerade vorhanden ist und zur Potenzbestätigung verwendbar gemacht werden kann. Doch wenn der Nebenmensch nicht mehr als solcher Zweck ist, sondern zum Mittel herabgewürdigt wird, so rächt sich dies meistens; es entstehen ihm gegenüber Schuldgefühle, welche wiederum mit moralischen Verpflichtungen abgetragen werden müssen.“

Jedes ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Bekenntnis muß sich die Frage nach seinem Wert für den anonymen Leser stellen lassen. Weist es zurück auf das Werk? Hat es dokumentarischen Wert und literarische Qualitäten? Oder bleibt es nur Kuriosität, versehen mit der Signatur eines großen Namens, dem wichtigtuerisch das Siegel des „Geheimtips“ verpaßt wird? Auch damit hatte Canetti angefangen: In seiner Nobelpreis-Rede von 1980 nannte er vier Schriftsteller, die ihn beeinflußt hatten, den Nobelpreis aber nie bekamen: Robert Musil, Franz Kafka, Karl Kraus und Hermann Broch. Die Rollen hatten sich umgekehrt. Der jüngere, einst Protegé Brochs, machte sich nun zum Vehikel für den Älteren.

Broch hatte die Empfehlung nötig. Er ist, trotz aller akademischen Ausleuchtung seines Werks, geblieben, was sein Herausgeber und Biograph Paul Michael Lützeler konstatiert hat: ein „author's author“, gelesen von Schriftstellern. Einer, dessen Rezeption nicht zuletzt durch das Exil torpediert wurde, bis hin zu solchen Zufällen wie dem Streik der Zeitungsausträger ausgerechnet an dem Tag, als Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ in der New York Times Book Review besprochen wurde.

Um Broch scharte sich nie eine Gemeinde, aber er hat noch immer Leser, die sich an die Experimente wagen, die Broch mit dem Roman unternahm. „Die Schlafwandler“, 1930 bis 1932 erschienen, in denen Broch das Thema des Wertezerfalls in einer Synthese von sinnlicher Prosa und philosophischer Abhandlung durchdringt. Der Fragment gebliebene Roman „Die Verzauberung“, einer 1935/36 entstandenen Parabel zur Massenhysterie. „Der Tod des Vergil“, episches Gedicht und Abgesang auf die Dichtung.

Das umfangreiche theoretische Werk, die unvollendete „Massenwahntheorie“ – jener zweite Strang seiner Produktivität, der ihm gegen Ende seines Lebens immer wichtiger schien – wird kaum noch wahrgenommen. „Wenn ich Romane schreibe, habe ich das Gefühl der Verantwortungslosigkeit“, teilt Broch einem seiner unzähligen Korrespondenzpartner mit. Hannah Arendt, mit der er in den Nachkriegsjahren befreundet war, prägte das Bild vom „Dichter wider Willen“. Wenn auch die Formel nicht ganz stimmte, so war Broch in jedem Fall ein Theoretiker gegen seine eigene Neigung. Lust und Pflicht, Zwang und verstohlenes Glück – das sind die Konstanten, zwischen denen Broch in der „Psychischen Selbstbiographie“ sein emotionales Leben und seine Kreativität ausmißt.

Vom Einzelgänger zum Weltenschöpfer

Die Anamnese folgt der Terminologie Freuds. Die Kindheit wird als Serie von „Traumen“ beschrieben, eine kalte, herrische Mutter enthält dem ältesten Sohn jede Zuneigung vor, die Eifersucht auf Bruder und Vater schildert Broch als ein fast todbringendes Drama. Dem in der Kindheit eingepflanzten „fürchterlichen Inferioritätsgefühl“ folgt mit neun Jahren das „platonische Erlebnis“, ein plötzliches Bewußtwerden nicht nur der vollkommenen Einsamkeit, sondern auch der Gewißheit, die Welt in Gedanken neu erschaffen zu können.

„Der Einzelgänger, der Un- Mann voller Minderwertigkeitsgefühle wurde damit plötzlich zum gedanklichen ,Weltenschöpfer‘.“ Und Broch scheut sich nicht, das kulturstiftende Potential der Neurose ins Allgemeingültige zu erheben. „Ich habe also“, räsoniert er, „manchen Anlaß, meiner Neurose recht dankbar zu sein; ohne sie wäre ich den Weg der Triebsublimierung, den ich gefunden habe, wohl niemals gegangen.“

Broch hat die psychoanalytische Behandlung niemals als Gefahr für die eigene Produktivität betrachtet, noch hat er sie als Befreierin aus schöpferischen Blockaden gefeiert. Er hatte, auch das läßt sich aus der „Psychischen Selbstbiographie“ herauslesen, ein fast naives Verhältnis zu ihr. Sie gab ihm das Instrumentarium zu ausgedehnter Selbstbespiegelung an die Hand, und nur hier erlaubte er sich dies. Die Frauen, denen dieser Text zukam, stehen nur als Scheinöffentlichkeit Spalier. Es bleibt ihnen höchstens überlassen, sich in Brochs Weiblichkeits-Typologie einzuordnen, die ihn als Sohn des Fin de siècle ausweist: „Der erste Typus ist in starker Idealisierung nach dem Bild der Mutter geformt. Er umfaßt Frauen in gehobener sozialer Stellung, ,dekorative Frauen‘, die einerseits durch Hochwüchsigkeit und Schönheit auffallen, andererseits sich durch eine Art Befehlsgewalt durchzusetzen verstehen... Der zweite Typus ist im Gegensatz zum ersten, der gewissermaßen den der ,gnädigen Frau‘ im Haushalt meiner Jugendzeit repräsentiert, nach dem Bild des ,Dienstmädchens‘ geformt, dies umsomehr, als auf dieses meine ersten, mehr oder minder bewußt gewesenen erotischen Wünsche gerichtet gewesen waren, da mir ja von meinen Bonnen und den Dienstmädchen jene Zärtlichkeit zuteil geworden war, die meine Mutter immer nur für meinen Bruder übrig gehabt hatte.“

Während das „Es“ sich mit dem zweiten Typus zufriedengibt, drängt das Über-Ich nach dem ersten, und es bleibt, bei aller „herabgeminderten Liebesfähigkeit“, das Hoffen auf eine „Wunderfrau“, auf ein Wesen, das sich „dieselben hoch- und übergesteckten Ziele (setzt), in äußerster Persönlichkeits- und Erkenntnisentfaltung nach innen und in äußerster Loyalität nach außen.“ Da ihm diese ideale Gefährtin nicht einfach über den Weg lief, unterwarf er seine Geliebten einer „Umformung“. Zum „neuen Menschen“ sollte sie „wiedergeboren werden.“ Es ist das Eingeständnis einer ungeheuren Anmaßung – der Erziehungsgewalt über die Frau. Der pädagogische Furor erinnert an Kafkas Lektürevorschriften für Felice Bauer und an Kleists „große Idee“ von der Gattin, die er seiner Verlobten vorhält. Nur fehlt hier die äußerste Bloßgelegtheit, mit der Broch den Frauen entgegentritt.

Bekenntnisse eines gebildeten Buchhalters

Brochs „Selbstbiographie“ ist das Paradox eines Textes, der Intimstes mitteilt und dabei dennoch den größten Abstand hält zu sich selbst. Ein Bekenntnis im Substantiv-Stil eines gebildeten kakanischen Buchhalters. Nichts findet sich hier von der Aura der schwebenden, leuchtenden Prosa seiner „Erzählung der Magd Zerline“, der letzten, die Broch geschrieben hat. Wohl läßt sich die Spaltung der Frauenfiguren in sinnliche Dienstmädchen und „frigide“ Edelfräuleins in seinem Werk auffinden. In diesen Passagen ist die „Selbstbiographie“ eine Variation auf die klassische, Otto-Weininger-gespeiste, misogyne Männerphantasie von der Heiligen und der Hure, der Mutter und der Madonna.

In ihrer Substanz aber ist sie das Protokoll eines Scheiterns, das sich schon außer jeder Hörweite vollzieht. Ein Dokument, das von der Einsamkeit des europäischen Emigranten erzählt, der sich inmitten amerikanischer Campus-Künstlichkeit immer wieder selbst zurufen muß, wer er ist und woher er kommt. Die „Psychische Selbstbiographie“ Brochs ist das Zeugnis einer Selbstvergewisserung – in einer Überlebenslage, in der sich andere abhanden kamen.

Hermann Broch: „Psychische Selbstbiographie“. Herausgegeben von Paul Michael Lützeler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, 214 Seiten, 44 DM

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