: Das lange Warten auf den Bundeskanzler
■ Anstehen für die große Politik: Polizisten, Presse und Passanten zeigten sich beim EU-Gipfel von ihrer hauptstädtischen Seite. Am Vorabend trafen sich Schröder und Chirac in der „Letzten Instanz“ zu Braten und Bier
Hart hämmert der Sound auf dem Bürgersteig an der Budapester Straße. Der Song „Still ill“ ist hoch in den Charts, und die Musik aus den Boxen des MTV-Studios spielt den Hit nicht nur für die Gäste im Studio, sondern auch für die Passanten auf der Straße. Einer von ihnen, so hoffen die MTV-Macher schon den ganzen Tag, könnte ja Gerhard Schröder sein, der Bundeskanzler. Doch obwohl der gerade wenige Häuser weiter eine Pressekonferenz gegeben hat, läßt er sich auf dem Rückweg zum Hotel Intercontinental nicht blicken. In dem Hotel warten die anderen EU-Staatschefs und Minister auf ihn. Es ist EU-Gipfel.
„Still ill“, für den Gipfel gilt das seit der gerade zu Ende gegangegen Pressekonferenz nicht mehr: Denn die Europäische Union hat den ehemaligen italienischen Romano Prodi zum neuen Ratspräsidenten ernannt und sich damit zumindest personell aus einer ihrer schwersten Krise in der Geschichte befreit. Doch das interessiert Holger von MTV in diesem Moment weniger: „Wenn Schröder kommt, stürmen wir heraus. Der soll doch mal den nächsten Videoclip ansagen.“
Rausstürmen heißt in diesem Fall auf den Bürgersteig zwischen Pressezentrum und Hotel Intercontinental, wo in diesen Tagen vor allem Journalisten hin- und her eilen und Polizisten Passanten kontrollieren. Bis zu MTV kommt der normale Bürger ohne besondere Akkreditierung noch, wenige Schritte dahinter ist Schluß. Für den Verkehr ist ein Großteil der Straße ohnehin abgeriegelt. Eine Polizieiwanne steht neben der nächsten, davor eine lange Reihe von Übertragungswagen. „Ich weiß gar nicht, was hier los ist. Aber hier ist was los“, sagt eine Passantin mit Spannung in der Miene. „Ah, so, EU-Gipfel, wie aufregend.“ Sie bleibt an der Absperrrung stehen, die noch weit vom eigentlichen Tagungsort entfernt liegt. Sicher wird sie von hier aus keinen Blick auf einen Politiker erheischen können. Aber das weiß sie nicht.
Im Pressezentrum selbst, zu dem 4.000 akkreditierte Journalisten Zugang haben, glich die Stimmung vor der Verkündung eines neuen Ratspräsidenten durch den Kanzler einem angespannten Warten. „Irgendwie passiert nichts“, sagt einer und ißt trotzdem lieber im Stehen. So, als wäre er dann schneller auf dem Sprung. Spekulationen über den weiteren Verlauf des Gipfels haben gerade Hochkonjunktur. „Was soll ich bloß schreiben?“ fragt jemand anders, und jeder ist dankbar für eine neue, halbwegs originelle Theorie.
Zu diesem Zeitpunkt sucht die international angereiste Presse noch nach kleinsten Andeutungen und Erkenntnishappen. Und als die stellvertretende Regierungssprecherin Charima Reinhardt in den langen Gängen des Pressezentrums erscheint, muß sie dreimal hintereinander erzählen, wo der Kanzler am Abend zuvor mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac gegessen hat. „Sie waren in dem Traditionsrestaurant „Letzte Instanz“. „Es gab Schweinebraten und Bier“, erzählt sie immer wieder aufs neue.
Nach zehn Minuten ist sie nur wenige Schritte weiter. Dann umringen sie wieder dreißig neue Journalisten. Schließlich verschwindet sie doch charmant lächelnd im Büro der Bundespresseamtes. Etwas anderes gebe es nun mal im Moment nicht zu sagen.
Einige der umstehenden Journalisten sind ratlos. Doch dann erzählt die Regierungssprecherin im kleinen Kreis im Büro doch noch etwas, was nach dem tatsächlichen Ende der Verstimmungen zwischen den beiden Länderchefs klingt: „Beim Empfang am Morgen ist Schröder auf Chirac zugegangen und hat ihn sehr herzlich begrüßt.“ Die anderen Staatschefs habe er hingegen alle auf sich zukommen lassen.
Nur handverlesene Fotografen hatten Zugang zu diesem Termin im Foyer des Hotels: Sicherheitsstufe 1. Scharfschützen in dunklen Kapuzenpullovern sind auf den Dächern postiert. Andere Polizisten beobachten jeweils das gegenüberliegende Haus mit dem Fernglas. Lediglich als Zaungast und außerhalb des Hotels ist es wenigstens dreißig Pressevertretern gestattet, die Szenerie zu beobachten. Mehr nicht. Es ist erlaubt zu sehen, wie die Chefs und ihre Delegationen aus den hellgrauen Audis und VWs springen, um dann ins raketensichere Hotel zu eilen, es ist erlaubt zu sehen, wie die Staatschefs kurz den Blick zu den Fotografen wenden, manche wie der österreichische Bundeskanzler Viktor Klima die Hand zum Gruß erheben.
„Mich nervt das alles tierisch hier“, sagt eine Anwohnerin mit gutem Blick auf das Interconti. Sie lehnt aus dem offenen Fenster, raucht einige Zigaretten und schaut dem Treiben zu. Ihre Straße ist in die Sicherheitszone einbezogen. Niemand wird ohne Kontrolle zu seinem Haus gelassen. „Eine Freundin, die sehr schlecht Deutsch spricht und sich nicht ausweisen konnte, haben sie nicht durchgelassen“, schimpft sie. Im Laufe des Tages entspannt sich die Situation jedoch, und am Mittag haben sich die Polizisten ein eigenes System überlegt: Sie begleiten jeden ohne Ausweis bis zu dem Haus, in das er hineinwill. „Man muß das ja auch nicht alles so ernst nehmen, wie es die Politiker tun“, sagt ein Polizist, der die Kontrollen durchführen muß.
Die Passanten am unteren Teil der Budapester Straße, nahe dem Zoo, sehen die Abriegelungen und Polizeipräsenz mit relativ großer Gelassenheit: „Mein Gott, das gehört nun mal zu einer Hauptstadt dazu“, sagt eine ältere Dame. Sie will auch in den Zoo Palast, allerdings nicht zu einer EU-Pressekonferenz. Für den Medientroß steht im für Filmbesucher geöffneten Nebentrakt die Präsentation des Films „Straight Shotter“ auf dem Programm. „Mit Politik habe ich nicht viel zu tun. Aber hier gibt es jetzt Spannung pur.“ Annette Rollmann
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