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Der Mythensammler

■ Seine Helden sind Ideologien und Klischees: Viktor Pelewin setzt in „Buddhas kleiner Finger“ die russische Ideengeschichte neu zusammen

Viktor Pelewin ist der mysteriöseste Autor der gegenwärtigen russischen Literatur. Einer, der keine Interviews gibt, nicht in der Öffentlichkeit erscheint und niemals seine schwarze Sonnenbrille absetzt. 1992 erschienen seine zwei ersten Bücher: „Die blaue Laterne“ und „Omon Ra“ – keine Fotos, keine Biographie. Schlagartig wurde er populär.

Allerdings nicht bei den Kritikern. Die anspruchsvollen literarischen Kreise der russischen Postmoderne, die in den Neunzigern von ihrer eigenen Wichtigkeit sehr angetan waren, mißachteten Pelewin. Die in Hunderttausender- Auflagen verkauften Bücher sorgten jedoch für Aufsehen. Die russische Kritik, mit Dorfrealisten, Metarealisten, Sozrealisten und Postmodernisten beschäftigt, hatte bereits eine tolle Literaturlandschaft, in der nichts fehlte, als Pelewin ankam. Als sie ihn nicht mehr ignorieren konnten, suchten sie eine Schublade, um ihn irgendwo abzulegen und schnell wieder zu vergessen.

Die war aber nicht leicht zu finden. Man wollte Pelewin gern als etwas Unwirkliches behandeln. Und so geriet seine Geburt als Schriftsteller sogleich auf die schiefe Ebene der „Alternativ- Fantasy“. Als Fantasy-Autor wurde er dann allerdings auch gleich heftig kritisiert, da er so wenig Fantasy-Technik in seinen Romanen und Erzählungen verwendet und sprachlich zu primitiv ist. So steht er denn auch einsam und allein auf dem Feld der „Alternativ-Fantasy“-Literatur und keiner weiß so richtig, was das ist. Eigentlich heißt dieses Genre Viktor Pelewin.

Das Genre Pelewin ist eine der wichtigsten literarischen Hervorbringungen Rußlands in den Neunzigern. Der Autor entdeckte, daß viele aus der Mentalität des Großreiches entstandene Mythen und Stereotypen sich längst von ihren Quellen abgetrennt hatten und ein eigenständiges Leben auf russischem Boden führten. Er sammelte sie sorgfältig zusammen und machte daraus ein beeindruckendes Panorama.

Seine Helden sind keine Menschen, sondern große und kleine Ideen, Ideologien und Klischees, aus denen sich im 20. Jahrhundert das Bewußtsein des russischen Volkes bildete. Von der Revolution 1917 bis zur Konterrevolution 1989, vom Naturwahn bis zum Computerfieber spiegeln sich in seiner literarischen Welt alle mehr oder weniger bedeutsamen Ereignisse der Neuzeit wieder. Diese Bricollage ist aus den Elementen eines zerfallenen Imperiums zusammengesetzt, aus den alten und neuen Geschichten des niedergeschlagenen Bewußtseins eines Volkes.

Der Epiker Pelewin stellt sich als Aufgabe, die geistige Landschaft Rußlands auseinanderzunehmen, sie zu desakralisieren. In ihrer Begründung, sein Buch „Buddhas kleiner Finger“ nicht für den Booker-Preis zu nominieren, sagte die Jury: Es wirke „wie ein Computervirus – geschaffen, um das kulturelle Gedächtnis Rußlands zu zerstören“.

In diesem Roman vermischen sich berühmte russische Bürgerkriegshelden, Fernsehserienstars, Klapsmühlen, psychoaktive Pilze, Buddhisten, neue Reiche, prominente Banditen, anonyme Alkoholiker und natürlich die berühmten russischen Literaten. Von den Seiten seines Romans grüßen uns immer schon – der Reihe nach – Bulgakow, Alexej Tolstoi, Grin und Gaidar und irgendeine Jugendzeitschrift noch dazu. In seinem Epos ist jede Zeile ein Teil des russischen kulturellen Lebens der Neuzeit. Wie viele haben in der Schule die verschiedensten Drogen probiert, waren zwischendurch mal in der Klapse, machten Witze über Tschapajew und sind irgendwann einmal mit dem Buddhismus fertig gewesen...

Pelewins Finger zeigt, daß es rundum nichts Wirkliches mehr gibt. Alles, woran wir glauben, haben wir uns selbst erfunden, und damit müssen wir nun auch noch fertig werden, daß unser Leben auf der schrägen Bahn einer „Alternativ-Fantasy“ abläuft. Bleibt nur die Frage, was kann eine Alternative zur Alternativ-Fantasy sein? Pelewins Buch „Buddhas kleiner Finger“ ist ein Buch zum Lesen, Lachen und zum Trauern. Lesen Sie es vor und auch nach dem Mittagessen, zu jeder Tageszeit, jedoch auch gut und gerne nachts. Wladimir Kaminer

Viktor Pelewin: „Buddhas kleiner Finger“. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 421 Seiten, 46 DM

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