piwik no script img

Die Grenzen des Hasses

Eine schwarze Reise durch das Europa des Rassismus  ■ Von Gary Younge

Es war ein sonniger Sommertag in der französischen Dordogne. Richard kam in mein Zimmer, mit Tränen in den Augen und einem Zelt unter seinem Arm. Im Frühjahr hatte er als Austauschschüler England besucht, jetzt war ich im Gegenzug bei ihm.

Ich war gerade drei Tage da, als er in der Tür stand, mit roten Augen: „Es gibt ein großes Problem.“ Sein Vater hatte ihm mitgeteilt, einen Schwarzen in seinem Haus zu haben, das könne er nicht aushalten. Er ging zur Tür hinaus mit den Worten: „Wenn ich wiederkomme, soll er weg sein.“ „Was denkst du?“ fragte Richard. Ich konnte nichts sagen. „Ich glaube, wir sollten gehen.“ Schweigend schleppten wir uns zu einem Campingplatz am Rande der Stadt.

Ich war 15 Jahre alt, und es war das Jahr 1984. Wham! waren in den Charts, die Bergarbeiter waren im Streik, und eine kaum bekannte Partei der äußersten französischen Rechten, die Front National (FN), hatte gerade 11 Prozent der Stimmen bei den Europawahlen gewonnen. Die Kommentatoren behaupteten, das sei ein Ausreißer. Aber innerhalb weniger Jahre wiederholte sich der Sieg der Rechten überall auf dem Kontinent. Im Jahre 1989 wurde Jörg Haider, der Führer der FPÖ, erstmals zum Landeshauptmann Kärntens gewählt; im Jahre 1993 verbuchten die „Republikaner“ einen durchschlagenden Erfolg in Deutschland; im selben Jahr war die größte Partei der damaligen Europäischen Hauptstadt der Kultur, Antwerpen, eine faschistische Partei, der Vlaams Blok. Und 1994 hatte die italienische Regierung Faschisten im Kabinett.

Ein Schwarzer im Haus, das geht nicht

Jedesmal, wenn ich zurück nach Kontinentaleuropa komme, scheint es schlimmer geworden zu sein. 1991 wurde ich von der Polizei in der Pariser Metro verprügelt; ein Jahr zuvor hatte ich mit meinem Bruder an der Rezeption eines Hotels in Barcelona gestanden. Wir mußten mit ansehen, wie zwei weiße Touristen das Zimmer bekamen, von dem wir gerade gehört hatten, es sei belegt. Ein paar Jahre später wollte mich ein Arbeiter auf einer flämischen Fähre über Bord werfen. Ich hatte während einer nächtlichen Überfahrt die Füße auf einen Stuhl gelegt.

Heute haben fünf Länder der Europäischen Union (Österreich, Italien, Frankreich, Belgien und Dänemark) Parteien der äußersten Rechten, die über mehr als 5 Prozent Stimmenanteil verfügen. In vielen anderen, wie zum Beispiel Deutschland, haben sie sprunghafte und dramatische Auftritte auf regionaler Ebene. Während wir uns dem 21. Jahrhundert nähern, hat sich der Faschismus als eine Ideologie der Mitte in der kontinentaleuropäischen Politik neu erfunden.

Richards Vater ist jetzt mein Mitbürger in einem nationenübergreifenden Projekt, das sich von Lappland bis Lissabon erstreckt. Wir haben einen gemeinsamen Gerichtshof für Menschenrechte und eine gemeinsame Währung. Dieser Kontinent soll uns gemeinsam gehören. Aber ich bin, wie viele Briten (wenn auch aus anderen Gründen), skeptisch.

Die Paßkontrolleurin in ihrem Glaskasten am Flughafen von Marseille teilt meinen Argwohn. Sie blättert mehrmals durch meinen Paß, vorwärts und rückwärts, bittet mich dann, zur Seite zu treten, und bespricht sich mit ihren Kollegen. Möglicherweise ist mein Bild schuld. Nicht nur die Tatsache, daß es ein schwarzes Gesicht zeigt, obwohl das sicher verunsichert. Sondern weil sich jemand daran zu schaffen gemacht hat.

Als ich einen Monat zuvor den Flughafen von Rom passierte, fragte ich einen Sicherheitsbeamten nach dem Weg zu meinem Flugsteig. Er verlangte meinen Paß. Kaum daß er ihn in der Hand hatte, versuchte er, seine Finger zwischen Bild und Papier zu schieben. Als ich ihm den Paß wegnehmen wollte, klopfte er auf sein Gewehr, forderte mich auf, mich „zu beruhigen“, und brachte den Paß zur Polizei. Erst mit der Hilfe eines Angestellten von Air Afrique schaffte ich es schließlich, den Paß zurückzubekommen und meinen Flug zu erreichen. „Diese Leute sind 50 Jahre hinter der Zeit. Es tut mir so leid“, waren seine Worte.

Zurück zum Flughafen von Marseille: Die Beamtin kommt zurück und fragt mich, ob ich ein Rückflugticket besitze. „Ja“, sage ich. „Kann ich es sehen?“ fragt sie. „Ich brauche kein Rückflugticket, um nach Frankreich zu kommen.“ Sie seufzt hörbar verzweifelt. Jetzt bin ich unvernünftig. Ich habe ein Ticket, aber ich will es nicht zeigen. Ich sehe auch nicht ein, warum ich das sollte. Mittlerweile sind sechs weiße Europäer in einer anderen Schlange an mir vorübergegangen. Ich zeige ihr mein Ticket. Sie betrachtet es einen Moment und winkt mich durch.

Es herrscht eine drückende Hitze in der Provence. Hier ist Frankreichs tiefer Süden: Eine Gegend, wo die Rassenkonflikte über Generationen zurückreichen. Hier leben die pieds noirs, französische Siedler in Algerien, die während des Unabhängigkeitskrieges hinausgeworfen wurden, die militants de FLN, die für die Befreiungsbewegung gekämpft haben; und die harkis, Algerier, die für die Franzosen gegen ihre eigenen Landsleute gekämpft haben und nun von beiden Seiten verachtet werden.

„Einwanderer bleibst du auf immer“

Das ist das Kernland der Front National. Ein paar Kilometer vom Flughafen entfernt ist Vitrolles, die kleine Stadt, die im Februar 1997 die Kandidatin der Front National auf den Stuhl des Bürgermeisters wählte – einen von insgesamt vier in der Region.

Seit Catherine Mégret, die Frau des Ex-Vize der Front National, Bruno Mégret, gewählt wurde, hat sich einiges getan im Rathaus. Es gab einen „Babybonus“ für „französische Eltern“, um die Immigranten an Neugeburten zu überflügeln. Allerdings fand nur eine Auszahlung statt, bevor ein Gericht die Prämien für gesetzwidrig erklärte. Und als die Familie erfuhr, wofür sie das Geld erhalten hatte, gab sie es zurück. Ein örtlicher, von der Gemeinde unterstützter Jugendklub wurde geschlossen, weil er sich weigerte, „traditionelle“ französische Musik zu spielen. Und viele Straßennamen wurden geändert, um „Vitrolles' provenzalische und französische Identität zu stärken“.

Vitrolles ist eine relativ junge Stadt, entstanden aus einem Industriegebiet, das den Überhang der Arbeiterklasse aus Marseille und Paris aufgesogen hat. Was ursprünglich ein kleines Dorf war, wurde schnell umklammert von billigen Wohngebieten und seelenlosen Einkaufszentren.

Das ist der Grundstock des neuen europäischen Faschismus: die untere Mittelschicht und kleine Kaufleute in den Vororten der Städte; Leute, die nicht viel haben und Angst haben, auch das zu verlieren; die keine Ausländer kennen und keine kennen wollen. Seit die Front National an die Macht gekommen ist, hat sich die Atmosphäre in der Stadt verändert, meint Phillipe Lamotte von der antifaschistischen Vereinigung. „Die FN hat viel Wirbel um die Kriminalitätsrate gemacht, und jetzt glauben die Leute, sie könnten abends nicht mehr auf die Straße. Die Sache ist die: Sie sind abends nie weggegangen, aber jetzt trauen sie sich nicht mehr.“

Ich nahm den Zug von Marseille nach Mailand. Wenn Vitrolles der Prototyp einer Stadt ist, die die Faschisten übernehmen, dann liefert Italien das Modell dafür, wie sie soweit gekommen sind. Die faschistische Partei des Landes, die MSI, hat sich aufgelöst. An ihre Stelle trat die Nationale Allianz. Deren Führer, Gianfranco Fini, spricht sich für die europäische Währungsunion aus, meint, das Land solle kurdische Asylbewerber aufnehmen, und will auf Bußfahrt nach Israel gehen.

1994 hatte er bereits vier Sitze im Kabinett und galt als der Bannerträger der Rechten. Fini begann sich selbst als „Postfaschisten“ zu vermarkten. Die MSI-Abgeordnete und Enkelin Benito Mussolinis, Alessandra Mussolini, war sich über das „post“ nicht so sicher. „Wenn er heute lebte, würde mein Großvater das tun, was Fini tut.“ Italiens Faschisten haben sich zur Mitte hin bewegt, aber die italienische Gesellschaft ist ihnen den halben Weg entgegengekommen.

Vor dem Mailänder Dom, der Hauptattraktion der Stadt, steht ein hochgewachsener, schlanker Senegalese, schwarz wie die Nacht, den Arm voller nachgemachter Yves-Saint-Laurent-Taschen. An einem guten Tag kann er 130 Dollar verdienen. An einem schlechten Tag gar nichts. Die meisten Tage sind ziemlich schlecht.

„Vielleicht verkaufe ich ein bis zwei Taschen. Das ist nicht viel, aber es reicht zum Leben.“ Seine Lebenskosten sind niedrig. Seit 18 Monaten teilt er sich mit drei anderen Senegalesen ein Zimmer am Stadtrand. Er denkt oft daran, nach Senegal zurückzukehren, hat aber Angst, nie wieder nach Europa zurückzukönnen. Schwierigkeiten mit der Polizei sind Berufsrisiko, aber ansonsten, sagt er, hat er keine Probleme. „Manchmal schreien die Leute mir etwas nach, und ich habe Freunde, die ihre Waren liegenlassen und abhauen mußten, weil sie von Italienern verfolgt wurden. Aber im großen und ganzen gibt es kein Problem.“ Er geht abends nicht aus. Er kennt keine Italiener.

An diesem Abend wollte ich essen gehen und landete schließlich auf der Via Pisani in einem Restaurant namens Al Graticiello. Die Frau an der Tür ließ mich nicht hinein. „Alles besetzt.“ Sie log. Mir wurde schon in vielen Nobelrestaurants die Bedienung verweigert, und ich weiß, wo es langgeht. Wenn du kommst, schauen sie auf die Liste mit den Vorbestellungen und bitten dich, eine unmöglich lange Zeit zu warten, blicken ganz betreten und sagen, daß es ihnen leid tut. Ich schaute um die Ecke in den leeren Speisesaal. „Es sieht nicht sehr besetzt aus“, sagte ich. „Wir bedienen nur im Garten“, sagte sie. „Kann ich den Garten einmal sehen?“ fragte ich. „Ich habe Ihnen gesagt, es ist alles voll“, gab sie gereizt zurück und kam hinter ihrem Tisch hervor, als ob sie mir den Weg abschneiden wollte. „Ich weiß, aber ich glaube Ihnen nicht“, sagte ich und ging.

Von Mailand nach Innsbruck brauchte der Zug sechs Stunden. Unterwegs kamen Grenzbeamte ins Abteil. Ich war der einzige Schwarze und der einzige, dessen Paß sie interessierte. Zwei von ihnen – nach kurzer Zeit unterstützt von einem Dritten – studierten ihn mit einer Mischung aus Neugierde und Unglauben. Dann gaben sie ihn zurück, während ich versuchte, so gelangweilt wie möglich zu schauen. Zwischen Italien und Österreich sollte es derartige Kontrollen eigentlich nicht mehr geben. Aber wenn es um Rasse geht, stößt ein Europa ohne Schranken schnell an seine Grenzen.

Selbst bei Regen ist Innsbruck – zwischen der nördlichen Alpenkette und den Tuxer Bergen im Süden – ein idyllischer Ort. Wie genau Sonny (nicht sein wirklicher Name), ein 34jähriger Mann aus Ghana, hierhergekommen ist, das ist eine lange Geschichte, die in der libyschen Wüste beginnt. Sonny, der der ghanaischen Armee beigetreten war, war Teil eines Bataillons, das der libyschen Regierung unterstellt war, um gegen den Tschad zu kämpfen. Er lief davon, erst nach Malta, wo er sich einen kenianischen Paß kaufte, dann nach Jugoslawien und schließlich nach Ungarn. Dort zahlte er 200 Dollar, um, zusammen mit 50 Leuten aus Bangladesch und Pakistan, über die Grenze geschmuggelt zu werden. Sie wurden erwischt. Er zerriß seinen gefälschten Paß, damit sie nicht herausfinden konnten, woher er gekommen war. Dann beantragte er politisches Asyl in Österreich, das ihm auch gewährt wurde. Als er ankam in Österreich, ging es ihm ziemlich schlecht: „Die Leute riefen auf der Straße ,Nigger!‘ und ,Affe!‘ hinter mir her, und ständig gab es Probleme mit der Polizei. Sie rufen immer noch, und manchmal kommen Männer, die Streit haben wollen. Aber ich kann nichts machen, denn wenn es zu einer Schlägerei kommt, kriege ich Ärger mit der Polizei, und sie können mich aus dem Land werfen. Also sage ich nur etwas, wenn kleine Kinder hinter mir herrufen.“

Heute arbeitet er als Hilfsarbeiter am Bau, zusammen mit Türken und Tschechen, und lebt ein Junggesellenleben, ist hinter Frauen her, trinkt Bier mit seinen Freunden aus Togo und schickt Geld nach Hause zu seiner Familie. Er ist seit 10 Jahren in Österreich und darf nur bei Regionalwahlen seine Stimme abgeben.

Von Innsbruck nach München ist es nicht weit. Ali, der in der Gegend geboren ist, fühlt sich so deutsch, wie sich Sonny österreichisch fühlt. „Meine Eltern sind in den Sechzigern hierhergekommen, und ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Aber wenn du hier als Sohn von Einwanderern geboren bist, bleibst du Einwanderer bis ans Ende deines Lebens. Es ist egal, ob du Goethe gelesen hast oder Lederhosen trägst, sie werden dich immer als Einwanderer behandeln.“

Während der zwei Tage, die ich in München verbrachte, wurde ich zweimal nach meinem Ausweis gefragt, als ich nachts durchs U- Bahn-Geschoß des Hauptbahnhofs lief. Beide Male sagte ich, daß ich Engländer sei und meinen Paß nicht dabeihätte. Ich zeigte aber, um Eindruck zu schinden, einen amerikanischen Führerschein und einen Presseausweis vor. Beide Male ließ man mich gehen.

Ich kehrte nach Marseille zurück mit dem Zug, wie ich gekommen war. In Nizza legte ich einen Zwischenstopp ein und traf einen englischen Fußballfan in einer Bar. Das Gespräch wandte sich, unter seiner Führung, den Arabern in Frankreich und den Schwarzen in Großbritannien zu. „Ich lebe in Southall, und es ist echt nett. Manche von ihnen können ein bißchen zäh sein, weißt du, wollen spezielle Gefälligkeiten, bringen die ganze Familie rüber und so was, aber was soll's. Ich glaube aber, die Asylberwerber verarschen uns. Ich meine, wir sollten uns auch einmal um uns kümmern.“ Ich war auf dem Weg zurück zu einem Rassismus, den ich wenigstens verstand. Erstdruck: „Guardian Weekly“

Übersetzung: Martin Hager

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen