: Dilemma der Moderne, aufgestoßene Tür
Vor zwanzig Jahren wurde am Rande Berlins Marzahn, die größte Stadt der deutschen Nachkriegsgeschichte, gegründet. Die als Plattenbaughetto diffamierte Siedlung leidet zwar unter baulichen Problemen, doch die Bewohner richten sich zwischen den „Leerräumen“ ein ■ Von Wolfgang Kil
Wahrscheinlich braucht man hin und wieder kleine Sensationen, um an das Normale wirklich glauben zu können. An einem frühen Sonntagabend im Frühjahr dieses Jahres veranstalteten die Künstler Ulla Walter und Kain Karawahn mitten im Zentrum von Marzahn eine Feuer-Performance. Obwohl es kalt und regnerisch war, hatten sich vielleicht 100 Neugierige eingefunden und starrten andächtig auf den kleinen achteckigen Arenaplatz zwischen den Warenhausterrassen und der Kunstgalerie „M“. In einem furiosen Fackelbrand waren 600 kleine Paraffinwürfel von den Künstlern entzündet und dann mit ausladenden Gesten über den rauhen Betonbelag gefegt worden. Dort flakkerten und funkelten sie wie ein kopfüber gespiegeltes Firmament, und für eine Viertelstunde war der Platz verzaubert. Von innen und außen illuminiert, versprach die Gewächshausfassade der Galerie in der rasch aufziehenden Dunkelheit wohlige Zuflucht. Dahinter ragten, links und rechts, die beiden schlanken 23geschossigen Wohntürme im allerletzten Tageslicht taubengrau gegen den schwarzen Himmel.
Noch nie hatte ich diesen Ort derart theatralisch inszeniert gesehen, noch nie war mir seine geradezu pathetische Symmetrie so deutlich ins Bewußtsein gedrungen. Endlich schien das Ideal der Architekten, ihr Vertrauen auf den kühl-rationalen Schönheitsbegriff der Moderne, einmal eingelöst. Zu einem großen, durchkomponierten Ganzen hatten sie ihre Stadt formen wollen: Der Traum von Weltverbesserern, er gilt inzwischen als gescheitert. Aber für diesen faszinierenden Augenblick lud der Schauplatz tatsächlich zum Schwärmen ein: Alle Zukunft ist gut, wir müssen sie nur wollen.
Bei Tageslicht bietet Marzahn ein viel prosaischeres Bild. Die einst so provozierende Härte der Neubaulandschaft wird inzwischen von Bäumen und Strauchwerk gemildert. Doch auch gnädigste Vegetation kann nicht die aufreizende Grundwahrnehmung überdecken – die beschmierten Häuserwände, die Verwilderung gerade der am meisten genutzten Zwischenräume. Diese Verwahrlosung an allen Ecken und Enden schlägt aufs Gemüt. Man könnte denken, die neue Gesellschaft nehme Rache an Marzahn für die Sünden der vorherigen: Als sollte hier die sozialistische Stadt genauso mit Verachtung gestraft werden wie zu DDR-Zeiten die kapitalistische. Mit genau den gleichen Hintergedanken, die auf Delegitimierung des Bestehenden zielen und folglich auf dessen baldestmöglichen Abriß.
Doch bei genauerem Hinsehen fallen Unterschiede auf. Die Wohngebäude, egal ob in kommunalem oder genossenschaftlichem Besitz, sind durchweg besser gepflegt, viele glänzen sogar in runderneuertem Fassadenbild. Sei es nun massenhaft zur Miete oder vereinzelt im frisch privatisierten Eigentum – gewohnt wird immer, und um den Investitionswert der familären Refugien müssen Sozialisten und Kapitalisten offenbar überhaupt nicht streiten. Auch in den städtischen Parkanlagen besteht kaum Anlaß zu Klagen. Nur jene ebenfalls nach Typenprojekten errichteten Bauten, die in ihrer Entstehungszeit „gesellschaftliche Einrichtungen“ hießen, also Schulen, Turnhallen, Kindergärten oder Freizeit- und Klubhäuser, sind in einem bedauernswerten Zustand.
Noch schwerer tun sich die Ladenlokale mit der Marktwirtschaft. Fast nur Billigbetreiber nahmen sich der vormals volkseigenen Warenhäuser, Ladenzeilen und Gaststätten an. Da operiert die teuflische Logik des schnellen Geldes: Wenn alle sagen, daß das hier sowieso nichts taugt, dann kann es auch geschunden werden – der „Slum“ als Selffulfilling prophecy.
An dieser „Unbrauchbarkeit“ der Gemeinschaftseinrichtungen zeigt sich ein grundsätzliches Problem: Hier hatten die planenden Architekten den Stadtstrukturen ein Gesellschaftsbild aufgeprägt, das sich nicht so ohne weiteres auf andere Gesellschaftstypen übertragen ließ. Was heute vor allem als Irritation oder „Störung“ im Stadterleben empfunden wird, spiegelt ziemlich direkt gesellschaftstheoretische Positionen der DDR wider.
Das für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich dichte (und heute nur schwer aufrechtzuerhaltende) Netz an Kindergärten und vor allem Krippen etwa reflektierte einen Familienalltag, in dem Berufstätigkeit für Frauen der Normalfall war. Das von jedem Ortsfremden beklagte labyrintische Straßensystem wiederum war Teil einer ausgeklügelten Strategie, die neue Stadt vorrangig aus der Fußgängerperspektive zu erschließen und somit dem Auto auf subtile Weise das Nachsehen zu geben.
Und die so heftig gescholtene „Gleichmacherei“ der typisierten Architektur wurde damals eventuell aus ästhetischen, nie aber aus sozialen Gründen kritisiert; die sprichwörtliche „Nachbarschaft von Professoren und Schichtarbeiterin“ fand unter dem klassischen Fugenraster der ewig gleichen 6-, 11- und 17geschosser ihren adäquaten und weithin akzeptierten baukulturellen Rahmen.
Die immer wieder leichtfertig kolportierte Floskel vom „Plattenbaughetto“ hat der größten Neubaustadt der deutschen Nachkriegsgeschichte für 160.000 Menschen, genauer: dem Selbstbewußtsein ihrer Bewohner nachhaltig geschadet. Aber mit der ersten am neuen Ort aufgewachsenen Generation wächst selbst einem künstlichen Gebilde wie Marzahn eine eigene Geschichte zu, der Ort kommt sozusagen „mental von selbst auf die Beine“, und auch diesmal wieder wird der Stadthistoriker Lewis Mumford recht behalten: „Häuser machen eine Siedlung, Bürger machen eine Stadt.“ Die Feuerprobe für jedes am Reißbrett entworfene Wohnmilieu ist der Alltag der Bewohner, und auf eine spannende Weise ist er es, der das Bild jeder Neubaulandschaft früher oder später zu verändern beginnt. Damit Stadt (in Mumfords Sinn) überhaupt entstehen kann, muß Zeit vergehen.
Wenn vorurteilsfreie Neugier sich um diese „beschleunigten“ Verwandlungen kümmert, wird der Augenschein manch hartnäkkiges Vorurteil widerlegen: Die angeblich so sperrigen Typenkonstruktionen aus Beton sind flexibel und zur Umnutzung genauso geeignet wie jeder altbackene Ziegelbau der Gründerzeit. Schiere Überlebensnot muß die Kreativität von „Machern“ nur genügend anstacheln – dann ziehen Reisebüros, Sonnenstudios oder Blumenläden auch in vormalige Abstellräume oder in trickreich umgewidmete Wohnetagen. Natürlich geht es auch professioneller: Wie am Helene-Weigel-Platz das Erdgeschoß eines Wohnhochhauses ganz pragmatisch zu kleinen Ladenpassagen erweitert wurde, hätte eigentlich einen Architekturpreis verdient. Und schon knistern Überraschungen in eben noch langweiligen Normgehäusen, wird ein Gang durch das Viertel zur Entdeckungsreise: Wo früher Wäsche trocknete, werden heute Tee oder Versicherungen verkauft, im gastronomisch unverpachtbaren Großrestaurant stehen Fitneßgeräte, aus dem Kabuff der Haushandwerkerbrigade wurde erst ein Paßbildatelier, dann ein Copyshop. Und rund um jede Kaufhalle, erst recht auf jedem Bahnhofsvorplatz wuselt die Vorhut aller individuellen Marktinitiativen – die Kiosk-Karawane. Hier gibt es Brot, Wurst, Räucheraal, Jogginghosen. Und, als folkloristische Spezialität aus Erstbesiedlertagen, Quarkkeulchen nach thüringisch-sächsischer Art.
Da steht sie vor uns, die Dienstleistungsgesellschaft in ihrer ursprünglichsten Form, rauh, zügellos, unverwöhnt – der mitteleuropäische domestizierte Basar, die Survival-Ökonomie der Modernisierungsverlierer. Für wie erfolgreich müssen im Vergleich dazu jene vietnamesischen und russischen Geschäftsleute gelten, die gleich eine ganze Ladenreihe der Havemann-Passagen gepachtet haben und hier „draußen“ ein Nebeneinander der Kulturen praktizieren, das zwar nicht spannungsfrei, aber doch metropolitan ist wie bisher allenfalls in und um Kreuzberg.
Vergleiche mit Kreuzberg drängen sich häufiger auf, wenn man die Wandlungen Marzahns zu analysieren versucht. Auch dort sollte ein eigensinniges Milieu nach vertrauten Leitbildern zurechtgestutzt werden, bis der Kiez sich schließlich zur Wehr setzte.
Und glücklicherweise fanden sich Planer und Politiker, die bereit waren, neue Wege zu gehen: pflegen statt ummodeln, zur Selbstheilung befähigen statt brachial operieren, die Zukunft des Bezirks nicht aus soziologischen oder urbanistischen Lehrmeinungen konstruieren, sondern auf die „Weisheit der Verhältnisse“ vertrauen. All dies wäre nach der Vereinigung auch gut auf Marzahn anzuwenden gewesen. Statt dessen jedoch wurden Kreuzberger Spielplatzstandards auf die (dafür völlig ungeeigneten) Marzahner Großhöfe übertragen und Unmengen teuren Geldes in kaum mehr als verhübschende Äußerlichkeiten gesteckt. Es geht aber um die Methode, wenn „Kreuzberger Behutsamkeit“ als Lehrbeispiel herhalten soll.
Potentiale zur Selbstheilung lassen sich auch in Großwohnsiedlungen finden. Nur muß man sie suchen, denn sie sehen dort eben ein bißchen anders aus als im Gründerzeitkiez. Offenbar sind es immer die Krisenbezirke, in denen die Stadt ihren nächstliegenden Herausforderungen zuerst begegnet. In Kreuzberg konnte Berlin testen, wie es sich so lebt nach dem Verschwinden der Industriearbeit, am Beginn der großen Völkerwanderungen und angesichts erlahmender sozialstaatlicher Sicherungssysteme. In Marzahn wird die fundamentale Verwandlung Berlins seit dem Mauerfall sichtbar: dieses unaufhaltsame Abdriften in die Risikozone der prekären Existenzen. Mit allen Sinnen wird man hier draußen darauf gestoßen, wie weit die Stadt schon im Ostteil des Kontinents liegt und daß sie dadurch – wenn noch nicht mental, so doch schon materiell – langfristig wohl eher zur Hemisphäre der Benachteiligten zählen dürfte. Der Metropolenrausch der Berliner Rathauspolitik tobt sich, aus Marzahner Alltagsperspektive betrachtet, in einem Wolkenkukkucksheim aus.
Ex oriente lux. Ex occidente Luxus. Man könnte denken, Stanislaw Jerzy Lec hätte einen seiner verschmitztesten Aphorismen speziell den Berlinern ins Poesiealbum geschrieben. Das mit dem Luxus als Etikett des Westens bereitet ja kaum jemandem Schwierigkeiten; wohl aber die Anerkenntnis, daß im Bild vom rauhen und wilden Osten vielleicht mehr an Berliner Zukunft skizziert sein könnte, als luxuriös verwöhnte Lebensart sich heute träumen lassen mag.
Diese Vorstellung ist gewöhnungsbedürfitg. Schon deshalb sollte, wer Berlin als „Hauptstadt der Epochenwende“ wirklich kennen will, Marzahn gesehen haben; dieses Beton gewordene Dilemma der Moderne, diese ins unabsehbar Offene aufgestoßene Tür.
Dieser Beitrag ist die gekürzte Version eines Textes für den Fotoband „Marzahn“ von Gerrit Engel, der Ende April bei Walter König, Köln, erscheint.Mit der jetzigen Generation wächst selbst einem künstlichen Gebilde wie Marzahn eine eigene Geschichte zu
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