: Die belebende Wirkung des Krieges
■ Die belebende Wirkung des Krieges Die Gefährlichkeit militärischer Auseinandersetzungen liegt in ihrer Macht über das kollektive Unbewußte von Gegnern und Befürwortern
Prototypisch verkörpert durch Joschka Fischer, der nur noch durch seinen guten Anzug zusammengehalten wird, ist der Pazifismus zusammengebrochen. Diejenigen, die gegen diesen Krieg sind, diejenigen, die die Bombardierung Serbiens für eine Gefährdung des Weltfriedens halten, rätseln jetzt darüber, warum sie plötzlich in der Minderheit sind. Dieselbe Generation, die in den achtziger Jahren, mitten im schönsten Frieden, massenhaft auf die Straße ging, um für ihn zu demonstrieren, stellt sich jetzt hinter einen Angriffskrieg, hinter die Einmischung in den Konflikt einer Region, die man nicht zum Spaß schon immer das Pulverfaß Europas nannte. Sie sieht ruhig zu, wie an dieses Faß die Lunte gelegt und gezündet wird.
Tatsächlich ist dieser Stimmungswechsel aber nicht überraschend. Im Gegenteil muß man sich fragen, ob er – als Ausschlag des Pendels in die Gegenrichtung – die notwendige Reaktion auf die exzessive Friedensbegeisterung ist. „Gedanken, die zu lange gedacht sind, können nicht mehr gedacht werden“, sagte der irische Dichter Yeats. Ein solcher Gedanke ist auch der Friede.
Es begann Anfang der neunziger Jahre, daß sich ein regelrechter Überdruß gegen die lahmarschigen Kerzenträger, gegen die wortreichen Verkünder der Apokalypse breitmachte, auch und gerade bei denen, die in dieser Richtung vorher besonders aktiv gewesen waren. Statt daß sie sich eine neue Zielrichtung suchten – die Neuordnung des Völkerrechts, die Stärkung einer Weltzentrale, die ermächtigt ist, mit polizeilichen Maßnahmen gezielt einzugreifen –, legten sie den Pazifismus ab wie ein altes Hemd. Der uralte Reiz des frisch-fröhlichen Krieges machte sich wieder bemerkbar. Man versah sich mit Argumenten für die neue Haltung: Plötzlich sollte der Pazifismus schuld an der Judenvernichtung gewesen sein; plötzlich sollten seine von den Nazis systematisch ermordeten Anhänger deren Helfer gewesen sein.
Man entdeckte ein Zauberwort, mit dessen Hilfe man vor sich selbst und anderen kaschieren konnte, daß man sich lediglich an dem alten Spiel von Töten und Getötetwerden beteiligen wollte: Statt von Tötungen sprach man von Menschenrechtsverletzungen – ein Oberbegriff, der eigentlich viel schwächer ist als der des Tötens, da er auch das Öffnen fremder Briefe bedeutet und die Greuel im Balkan schlecht erfaßt. Er bietet aber den Vorteil, daß er sich außerhalb des alten Diskurses bewegt, in dem sattsam bekannt ist, daß Gewalt als Antwort auf Gewalt zu neuer Gewalt führt.
Bei der eifrigen Bezugnahme auf die Menschenrechte wird übersehen, daß sie aus einer Kultur stammen, die kein Freund-Feind- Denken kennt. Ihnen liegt die Idee vom abstrakten Menschen zugrunde, dessen Rechte in gleicher Weise schützenswert sind – egal ob er ein Nato-Soldat ist oder ein junger Serbe, der eine militärische Stellung bewachen muß. „Krates gibt Krates von Theben frei“ – auf diesen Worten des ersten Stoikers, Krates aus Theben, der die Zugehörigkeit zu seiner Stadt bewußt abgestreift hat, basiert die Menschenrechtstradition. Diejenigen, die sie jetzt zur Rechtfertigung eines Bombardements benutzen, das sich für dessen Opfer nicht interessiert, mißbrauchen sie.
Vilfredo Pareto, der Theoretiker des italienischen Faschismus, war ein kluger Soziologe. Er unterschied zwischen „Residuen“ und „Derivationen“. Residuen sind die tiefliegenden, unbewußten, vitalen Antriebe des Menschen, Derivationen sind die intelligenten Rechtfertigungen, die Rationalisierungen, mit denen die Impulse, von denen der Mensch wirklich bestimmt wird, überdeckt werden. Um solche Derivationen handelt es sich bei den neuen Argumenten der Kriegsfreudigen. Ihre Bereitschaft zum Krieg kommt aus tieferen Schichten als denen, aus denen ihre Argumente stammen.
Dafür, daß schon seit einigen Jahren Krieg angesagt ist, gab es neben dem Umdenken der Intellektuellen auch andere Signale. Die kurzgeschorenen Haare der Jungen, die ausrasierten Nacken, die knobelbecherartigen Stiefel – das waren schon lange Anzeichen dafür, daß ein Krieg in der Luft lag. Die Rückkehr der Ästhetik zu den dreißiger Jahren, die immer monumentaler werdende Architektur, die martialischen Gebärden der Werbung, selbst eine Kleinigkeit wie die, daß wieder von „Mädels“ gesprochen wird – die feine Nase hat diesen Krieg schon meilenweit von fern gerochen.
Es sind, wie auch im Fall von Pareto, meistens die Rechten, die Nationalisten und Faschisten, die auf die tiefere, kollektiv-unbewußte Ebene anspielen. Meistens dient diese Betrachtungsweise dazu, den Krieg schönzureden, weil er die vitaleren Antriebe des Menschen erreicht. Aber auch Tolstoi, der Pazifist, ist bei seinen Kontemplationen in „Krieg und Frieden“ zu dem Ergebnis gekommen, daß der Krieg nicht die Erfüllung des Willens von Napoleon und Alexander war: „Es war notwendig, daß die Millionen von Menschen, in deren Händen die wirkliche, materielle Kraft lag, die Soldaten, die schossen oder den Proviant und die Kanonen transportierten, sich bereit zeigten, diesen Willen der beiden einzelnen, persönlich schwachen Männer zu erfüllen, und daß sie dazu durch eine zahllose Menge verwickelter, mannigfacher Ursachen veranlaßt wurden.“ Nicht durch Könige, sondern durch das „unbewußte allgemeine Herdenleben der Menschheit“ entstehen nach Tolstois Ansicht die Kriege.
Man kann die Gefährlichkeit des Krieges nicht erfassen, wenn man seine Macht über das kollektive Unbewußte ignoriert. Der Krieg ist kein rationales Kalkül von Politikern, sondern ein tiefsitzendes Bedürfnis der Menschen, das man gerade dann, wenn man ihn bekämpfen will, berücksichtigen muß. Die Menschheit lebt seit ihrem Anbeginn in dem Rhythmus von Krieg und Frieden, und dieser Rhythmus ist durch die fünfzigjährige Friedensperiode, die wir hinter uns haben, gestört. Unsere Kultur war von Dummheit, Dumpfheit und Langeweile so geprägt, daß der Ausbruch aus dieser Stickluft vorhersehbar war. „Der große Stumpfsinn“ heißt das Kapitel im „Zauberberg“, in dem Thomas Mann die Stimmung schildert, die den Ersten Weltkrieg provoziert hat. Frankreich langweilt sich, sagte Lamartine zur Begründung der Kriegsbereitschaft. Langeweile aber ist eine Kraft, die man nicht unterschätzen darf. Sie ist ein schleichendes Siechtum, das nach einer vitalisierenden Spritze schreit. Eine solche Spritze hat uns der Krieg, in den wir uns verwickelt haben, gegeben. „Im Friedensreichtum wird uns tödlich bange / Wir kennen Müssen nicht noch Können oder Sollen / Und sehnen uns und schreien nach dem Kriege“, schrieb ein junger Dichter vor dem Ersten Weltkrieg. Anders, versteckter, viel untergründiger spielt dieses Motiv heute, wo auch der postmoderne Lobpreis des Beliebigen längst langweilig geworden ist, eine Rolle.
Ich nehme an, daß viele Menschen nur deshalb mit dem Bombardement, das so offensichtlich sein Ziel verfehlt, einverstanden sind, weil sie sich seit seinem Beginn besser fühlen. Irgendwie ist die Luft frischer geworden, klarer, frostiger. Auch diejenigen, die gegen das Bombardement sind, merken das. Obwohl sie zeitweise entsetzlich bedrückt sind, spüren sie doch, wie der Krieg im Begriff ist, ein Korsett in ihr in Beliebigkeit versinkendes Alltagsleben zu ziehen. Man braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man diese Straffung als wohltuend empfindet. Sie ist die normale Folge eines Kriegsausbruchs. „Ein langer Friede häuft eine Menge fauler Gärungsstoffe auf. Darum tut uns ein frischer, fröhlicher, die Nationen, namentlich die die europäische Bildung tragenden Nationen, tiefer berührender Krieg not“ – dieses Wort war im vorigen Jahrhundert populär. Es hat auch heute seine Richtigkeit – wenn man von Risiken und Nebenwirkungen absieht.
Das aber wollen und können wir heute nicht mehr. Das durch den Krieg ausgelöste Wohlgefühl sollte deshalb niemanden dazu verführen, dem Krieg jetzt das Wort zu reden. Es ist kurzfristig und läßt schlagartig nach, wenn der Krieg näher herankommt und nicht nur mental, sondern tatsächlich in die Existenz eingreift. Aber: Nutzen wir es als Vitalisierung – im Kampf gegen diesen Krieg. Denn dieser Kampf ist ein Abenteuer, an dem man auch nachträglich noch seine Freude haben kann. Sibylle Tönnies
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