: Multimedial verwertbar
■ Victor Klemperers Tagebücher gibt's jetzt auch als Film – und der ist gelungen (23.40 Uhr, Arte)
Kann man ein Tagebuch verfilmen? Man kann. Zumindest dann, wenn es sich dabei um Victor Klemperer handelt. Seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1945 beschreiben den Alltag und die alltägliche Repression im Dritten Reich aus der Sicht eines Verfolgten, Drangsalierten, Ausgegrenzten. Seit ihrer Veröffentlichung im September 1995 entwickelten sie sich nicht nur zum Best- und Longseller, der Aufbau-Verlag legte gleich noch einen Auswahlband für jugendliche Leser und eine von Klaus Schlesinger erstellte Hörfassung auf sechs CDs nach. Klemperer erweist sich als gesamtmedial verwertbar und übersteht nun auch problemlos die Übersetzung ins Medium Film – ein Erfolg, der all denen entgegenzuhalten ist, die, wie Ignatz Bubis, ritualhaft das Ende des Erinnerns und die Vorherrschaft einer „Kultur des Wegschauens“ befürchten.
„Mein Leben ist so sündhaft lang“, lautet der Titel der Dokumentation, die Ulrich Kasten und Wolfgang Kohlhaase im Auftrag von ORB, SFB und Arte erarbeiteten. Ihr Film will und muß mehr sein als die Illustrierung der Tagebücher mit historischen Fotos und Filmausschnitten aus dem Dresden der 30er und 40er Jahre – schon deshalb, weil es von Klemperer nur wenig Bildmaterial gibt.
Verzicht auf plakative Schreckensbilder
Der Film verzichtet zudem bewußt auf plakative Schreckensbilder, um sich, wie die Tagebücher selbst, auf die allmähliche Verschlechterung der Lebensbedingungen zu konzentrieren. Man ahnt, wie es vor sich ging, wenn einer, dem sein Judentum zuvor wenig bedeutet hatte, nun „zum Juden gemacht“ wurde und in „Mischehe“ lebte. „Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht, warum sie diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich mit ihnen“, notierte Klemperer am 25. April 1933 in der ihm eigenen, distanzierenden Haltung, mit der er später schrieb: „Ich möchte der Kulturgeschichtsschreiber dieser Katastrophe sein.“
Der Film zeichnet die Kette der Demütigungen Stück für Stück nach und zitiert das Tagebuch aus dem Off: Fahrverbot für Juden 1935 – kurz zuvor hatten Klemperer und seine Frau Eva ein Auto gekauft. Lesesaalverbot für den leidenschaftlichen Romanisten in der Dresdner Institutsbibliothek und schließlich Ausleihverbot: ein intellektueller Mordanschlag. Schikanen wie Blumenkaufverbot, Speiseeisverbot, Telefonierverbot, Aufenthaltsverbot in Treppenhäusern, Haustierverbot und damit Abschied von der geliebten Katze, Zwangsumsiedlung ins „Judenhaus“ – all das protokolliert Klemperer so sachlich, als ginge es nicht um ihn und sein Leben, das durch die Ehe mit einer „arischen“ Frau nur auf Abruf geschützt war.
Menschen aus dem Tagebuch im Interview
Kasten und Kohlhaase beschränken sich nicht auf Tagebuchrecycling für ein populäres Medium und für alle Lesefaulen. In Interviews mit Zeitzeugen – neben dem Neffen Peter Klemperer und der zweiten Frau Hadwig wurden auch Personen aus dem Tagebuch aufgespürt – versuchen sie, zusätzliche Informationen zu gewinnen. Eine alte Bayerin und ihre Tochter kommen zu Wort, die die Klemperers als Flüchtlinge nach der Bombardierung Dresdens beherbergten. Stolz erzählen sie, daß ihnen schon klar war, daß es sich bei Klemperer um einen Juden handelte. Aber als sie hörten, daß die Frau Pianistin sei, hätten sie ihr bestimmt auch ihr Klavier zur Verfügung gestellt. Oder etwa nicht, Mutter? Doch, doch.
Im Epilog erzählt der Film aus der Nachkriegszeit und vom ambivalenten Verhältnis Klemperers zur DDR, in der er lebte und lehrte, wohl wissend, daß der Marxismus „a) besser ist als unsere SED-Regierung und b) eine Religion wie andere Religionen, und ich kann nicht glauben“. So rundet sich der Film zum gelungenen Porträt eines großen Humanisten, der der Vernichtung das Beharren auf den Prinzipien der Aufklärung entgegenstellte und – auch das wird deutlich – seinen Humor dabei nicht verlor. Jörg Magenau
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