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„Wo bleibe ich, wenn die ohne Geld kommen?“

Abseits der großen Auffanglager für die Vertriebenen bereiten sich ganze Klassen von Kosovo-Albanern auf eine endgültige Auswanderung vor. Gegen einen „Unkostenbeitrag“ schleusen Menschenschmuggler die Flüchtenden hinter den Posten über die Grenze  ■ Aus Südalbanien Werner Raith

Muravi Esic gehört zu den ausgewiesenen Menschenfreunden, und das sagt er einem auch gern und oft: Kurden, Afghanen, Somalier – „denen geht's ja noch gold gegen diese armen Schweine hier“. Er zeigt auf die Hunderten von Menschen, die teilweise eng aneinandergedrückt am Ufer des Vijose- Flusses hocken und die Morgenkälte zu überstehen suchen. „Alles Kosovaren“, versichert er, „und nur die befördere ich weiter. Alle anderen können warten.“

Die „anderen“ warten, so ist von einem der Mitarbeiter Muravis zu erfahren, irgendwo ganz, ganz im Süden Albaniens, bei Kakkabia an der Grenze Griechenlands, manche seit zwei Monaten. So ganz weit entfernt ist das zwar nicht von hier, auf dem Weg von Kelcyre nach Erseke, den wir, im unbeleuchteten Jeep mit Startpunkt südlich von Vlore, im Schutz der Nacht erreicht haben. Aber Muravi und seine Leute haben sich mindestens genausogut wie die Behörden Italiens oder Deutschlands auf den abzusehenden Ansturm der Kosovaren vorbereitet.

Muravi wird „diese geschundenen Menschen hier“ so schnell wie möglich „expatriieren“. Weiß der Himmel, wo er das vornehme Wort aufgeschnappt hat, das er nun eifrig seiner geschäftlichen Tätigkeit aufklebt, die in etwas rüderem Ton auch Menschenhandel heißt. Er betreibt eine der florierenden Schleuser-„Firmen“, hat immer noch ein gutes Dutzend Schlauchboote zum Übersetzen nach italien zur Verfügung (und bringt auf dem Rückweg mal Journalisten, mal Schmuggler, auch Albaner wieder in ihr Land, weil sie Heimweh bekommen haben oder etwas erledigen müssen).

Voraussetzung ist natürlich, daß alle Passagiere „einen Unkostenbeitrag leisten“. Der beläuft sich für Leute mit Paß, wie etwa die Journalisten oder heimische Schmuggler, auf umgerechnet 50 bis 100 Mark, für solche ohne Einreiseerlaubnis nach Italien allerdings etwa 1.500 Mark pro Person; reine Fahrtkosten, Verpflegung kostet extra. „Ist teuer“, sagt er mit großem Bedauern im Gesicht, das aufrichtig wirken soll, „aber Risiko auch.“ Dennoch hat er über Mangel an Nachfrage nicht zu klagen, obwohl die meisten hier berichten, daß ihnen zuerst die Serben bei der Vertreibung alles weggenommen haben, was sie erwischen konnten, und daß danach auch noch die makedonischen Soldaten und Grenzer Leibesvisitationen durchgeführt haben. Daß dennoch am Ende nicht wenige doch noch die Fahrtkosten aufbringen können, ist der „diskreten Hilfe“ Muravis und seiner Mitarbeiter zu danken, behauptet dieser jedenfalls selbst.

Parallel zu den offiziellen Trecks schleusen seine Leute unkontrolliert kleine Grüppchen von Kosovaren hinter den Posten über die Grenze, und die stoßen dann zu ihren Verwandten, bringen ihnen wenigstens noch ein wenig von dem mit, was sie den Serben entziehen konnten. Weil diese Leute Angst vor Überfällen ihrer „Wohltäter“ haben, werden sie laut Muravi sogar noch mit Maschinenpistolen ausgerüstet. Die müssen sie aber nach der Grenze gleich wieder abliefern. Wenigstens hier ist Muravi ehrlich: „Ich mach' das weniger für die“, sagt er, „aber wo bleibe ich, wenn die Leute alle ohne Geld hier ankommen?“

Unbemerkt, oder auch vielleicht bewußt nicht kontrolliert von den albanischen Behörden, haben sich zusätzlich zu den großen, im Norden verlaufenden Fluchtrouten der Kosovaren solche gebildet, die die Ostgrenze entlang gehen, zuerst Makedonien, dann Bulgarien, dann Griechenland. Und hier bewegen sich nun überwiegend Menschen, die andere Ziele haben als die großen Auffanglager der Italiener, Deutschen und Engländer. Die, die diesen Weg gewählt haben, wollen nicht wieder zurück ins Kosovo, komme, was wolle. Sie wollen dem Balkan auf Dauer adieu sagen, „im Westen“ neu anfangen.

Viele dieser Menschen sprechen mehrere Sprachen, und nicht nur die in Jugoslawien üblichen, auch Englisch, Russisch, Italienisch, manche auch Deutsch. Und nur wenige machen den Eindruck, der in den großen Camps vorherrscht: den völlig verwirrter Menschen, die nicht aus noch ein wissen, den Terror nie mehr aus den Seelen werden bannen können, die keine Zukunft mehr vor sich sehen.

Die Menschen hier haben, trotz des sichtbaren Elends, offenbar ganz präzise Vorstellungen, wie es weitergehen soll. Ein Rechtsanwalt ist unter ihnen, eine Orchesterleiterin, ein Textilkaufmann, ein Physikprofessor, ein ehemaliger Leiter eines medizinischen Fachlabors, eine ganze Anzahl von ehemaligen Lehrern. Alle mit ihren Familien, teilweise bis ins dritte Glied. Und unter diesen sind natürlich dann doch wieder viele einfache Menschen, Arbeiter, Tagelöhner. Sie sind aber mit dem Glück gesegnet, zu einem dieser „wichtigen Leute“ zu gehören, wie man sie ehrfurchtsvoll auch in Kreisen Muravis nennt.

Aber die einfachen Menschen wagen sich kaum einmal hervor, berichten nicht einmal über die Greuel, die sie erlebt haben – vielleicht in der Einschätzung, daß die Intellektuellen derlei sowieso viel eindrucksvoller und mit viel mehr Worten schildern können.

Muravi scheint fast ein wenig stolz, solche Gruppen „unter sich“ zu haben – „die halbe Elite des Kosovo“, meint er. Das ist natürlich übertrieben. Aber daß die Geistesarbeiter viel weniger Zutrauen zu einer Pax americana für die Zukunft hegen als die Arbeiter und Bauern, das läßt sich hier immer wieder feststellen. „Nein, nein“, sagt die Orchesterleiterin, „hier auf dem Balkan wird nie Frieden sein, die Menschen hier können so stark hassen wie sonst nirgends.“

Ob das stimmt, bleibt dahingestellt, auch einige ihrer LeidensgenossInnen finden das nicht, sehen „in jedem Bürgerkrieg die allerniedrigsten Instinkte hervorbrechen“, wie der Rechtsanwalt beobachtet hat. Für ihn ist die Balkanfrage einfach nicht zu lösen – Rassismus hin, ökonomischer Neid her: „Die Länder hier sind zu klein, haben überdies weder Bodenschätze zu bieten noch anderes, wonach die heutigen Geschäfte gieren.“ Allenfalls die Nato, das sieht er absolut nüchtern, hat derzeit „ein gewisses Interesse, einige Stützpunkte anzubringen, für den Fall, daß die Russen doch wieder Weltmachtgelüste zeigen sollten“. Dann wäre das Kosovo ein Staat an der Demarkationslinie, „so gefährdet wie vordem Berlin“, und da möchte er mit seiner Familie dann nicht mehr leben.

Die hier durchwandernden Menschen haben offenbar bereits vor Monaten Kontakte ins Ausland aufgenommen: nach Deutschland, die USA, nach Kanada und einige sogar nach Australien. Ansprechpartner sind dabei manchmal enge Verwandte, Söhne oder Töchter, die seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft irgendwo weit weg Fuß fassen konnten. Nicht selten aber auch über die in alle Welt verstreuten italienischen Gemeinschaften, zu denen man offenbar schon früh enge Beziehungen geknüpft hat, und die sich bereit erklärt haben, die Neuankömmlinge zumindest fürs erste zu versorgen.

Vielleicht waren mit der „vorbildlichen Fürsorglichkeit und uneigennützigen Hilfe der Italiener“, auf die der Papst bei seiner Osterpredigt zu sprechen kam und die er ausdrücklich segnete, nicht nur die Zeltstädte in Durres und Kukes gemeint.

Vielleicht hat sich der polnische Papst auch just an jene verdeckten Hilfsmaßnahmen erinnert, die in den 80er Jahren Mitglieder der Solidarność-Gewerkschaft von diesen italienischen Gemeinschaften bekamen, die auch jetzt wieder aufnahmebereit sind.

Nicht alle freilich wollen gleich nach Übersee. Mancher hat bei Reisen in den vergangenen Jahren, als sich in Jugoslawien alles noch eher friedlich zu lösen schien, schon mal die famosen „Albaner- Siedlungen“ in Italien besucht, die seit der Niederlage gegen die Türken im 16. Jahrhundert in Unteritalien und Sizilien gegründet wurden, und die noch immer Brauchtum und Sprache pflegen. Nicht, „daß wir denen nun auf den Geldbeutel fallen wollen“, sagt einer der flüchtenden Lehrer, „aber soweit wir gesehen haben, ist dort noch viel Land, das brachliegt, in den Bergen zumal, vielleicht könnten wir uns wie damals unsere Urururgroßahnen ansiedeln.“

Ob es dafür derzeit in Italien offene Ohren gibt, ist nicht ausgemacht, aber die Vorstellung, sich von vornherein nicht als Bettler, sondern als Selbstversorger zu profilieren, scheint vielen hier in den Durchgangscamps zumindest aussichtsreicher als das Zusammengepferchtwerden in den Flüchtlingscamps, mit allenfalls der Aussicht, in ihre gebrandschatzten Häuser zurückkehren zu müssen.

Über eine Satellitenschüssel, die Muravis Freunde etwas abseits des Camps aufgestellt haben, sind die Fernsehbilder vom Wochenende zu sehen. Mitunter geradezu gespenstische Kontraste: Während die Reportagen kilometerlange Trecks ausgemergelter Flüchtlinge auf der Suche nach den nächsten Camps mit wenigstens etwas sauberem Trinkwasser zeigen, kommen in den nächsten Aufnahmen ebenso lange Schlangen gleichermaßen langsam voranruckelnder Autos vom Osterstau ins Bild.

Und die Menschen dort kippen sich flaschenweise Wasser über die nackten Oberkörper. „Besser, man läßt das unsere Leute hier nicht sehen“, sagt Muravi. Er schaltet den Fernsehapparat ab.

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