: Ferienort mit Blick auf Staatsfeind Nummer eins
Ein türkisches Städtchen wird berühmt. Hier liegt die Anlegestelle zu der Gefängnisinsel Imrali. Dort sitzt PKK-Chef Abdullah Öcalan ■ Aus Mudanya Jürgen Gottschlich
Etwa sechzig Augenpaare starren gebannt auf ein großes Tor. Langsam öffnet sich ein Flügel, ein Beamter tritt ins Freie, liest laut einen Namen vor und wirft Briefe, in Richtung der Männer, die hier schreien. Die Stimmung ist gelöst, man rempelt sich an, witzelt. Dann kommt ein zweiter Beamter in den Hof, und plötzlich erscheint eine gespannte Erwartung auf den Gesichtern der Männer. Alle drängen um ein Blatt Papier, eine Namensliste, die der Beamte an der Hauswand ausgehängt hat. Glücklich, wer seinen Namen auf der Liste findet, er bekommt Urlaub. Für eine Woche raus aus dem Knast.
Doch die Glücklichen treten nicht einfach vor ein großes Gefängnistor, sie steigen in ein Boot. Der Knast ist eine Insel. Die Szene stammt aus Yilmaz Güneys Film „Yol“ (Der Weg). Sie spielt auf Imrali, der Gefängnisinsel vor der Südküste des Marmarameeres, wo Güney selbst einige Jahre verbrachte. Heute werden auf Imrali keine Urlaubslisten mehr ausgehängt – auf der Insel ist nur noch ein Gefangener, und es ist sehr fraglich, ob der das Eiland noch jemals verlassen wird. Einen Monat vor Beginn des Prozesses gegen Abdullah Öcalan sieht es ganz so aus, als würde Imrali zur Endstation für den Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK).
Schon einmal war diese Insel die letzte Station für eine prominente Figur der türkischen Geschichte. Auf Imrali wurde 1963 Adnan Menderes gehenkt, der Ministerpräsident, den das Militär 1960 aus dem Amt putschte. Doch auch wenn das erwartete Todesurteil gegen Öcalan nicht vollstreckt wird, die Insel wird er wohl nicht mehr verlassen.
Zwei Soldaten traben heran und ziehen die Absperrgitter zur Seite. Langsam rollt ein Lkw auf den Schiffsanleger und weiter auf ein Landungsboot, das im Moment als Fähre dient. Der Lkw ist hoch mit Ziegeln beladen. Hinter dem Absperrgitter steht ein ganzer Wald von Kameras. Wohl noch nie hatte der Fahrer soviel Publikum, und prompt geht alles schief. Der Laster rutscht weg, und seine Hinterräder landen statt auf dem Boot fast im Wasser. Hilflos hängt der vollbeladene Wagen zwischen Boot und Mole. Die Aktion geht am Abend über alle Sender, denn dieser Schiffsanleger ist der letzte öffentlich zugängliche Ort vor Imrali. Im Hafenstädtchen Mudanya legen alle Boote ab, die nach Imrali fahren. Rund um die Uhr wird dieser Schiffsanleger von Fernsehteams bewacht. Sobald sich etwas bewegt, sind sie zur Stelle.
Das Elend für die Kollegen ist: Es bewegt sich so gut wie nichts. Die Promenade von Mudanya ist wie ausgestorben. Viele Lokale haben geschlossen, und am zweiten Anleger, wo einmal am Tag, in aller Frühe, für die Pendler eine Fähre nach Istanbul ablegt, ist alles verwaist. Zweimal in der Woche kommen Öcalans Anwälte, und ab und zu fährt ein ein Lkw mit Baumaterial vor. Für den Staatsfeind Nummer eins läßt das Militär einen neuen Hochsicherheitstrakt auf die Insel setzten, in dem Öcalan der Prozeß gemacht werden wird. Obwohl auf den ersten Blick alles ruhig scheint, hat sich das Leben in Mudanya seit dem 15. Februar, dem Tag, an dem Öcalan hier ankam, doch gründlich verändert. Über Nacht wurde das verschlafene Städtchen zur berühmtesten Anlegstelle des Landes. Ein Ruhm, der den meisten Einwohnern wenig Freude bereitet. Der gesamte Ort ist zu einer Art Hochsicherheitszone erklärt worden. Alle Zufahrtsstraßen werden kontrolliert, jedes Auto muß durch eine Polizeisperre.
Ohnehin sind die meisten Fremden, die jetzt noch nach Mudanya kommen, Journalisten, nicht nur zur Freude der Einwohner. „Fotografiert lieber das Mavi-Çarși in Istanbul [das durch ein Attentat ausgebrannte Kaufhaus], als hier herumzulungern“, erregt sich ein Nachbar im Bus, während ein anderer sich im Gespräch zunächst über die politische Zuverlässigkeit der Besucher informieren will. Glücklich dem Bus entronnen, müssen Journalisten zuallererst bei der Polizei antreten. Ohne Akkreditierung darf kein Berichterstatter die Stadt betreten. Während ein Formular nach dem anderen ausgefüllt wird, taut der zuständige Kripomann auf und beklagt sich, daß es ausgerechnet sie erwischt hat. „Wieso nur Mudanya, das war so ein ruhiger Ort hier.“
Seit jedes Auto, das in die Stadt fährt, erst einmal durchsucht wird, ist der Ort kulturell völlig verödet. Es findet nichts mehr statt, und wenn doch, kommt niemand. In einer ehemaligen griechich-orthodoxen Kirche hat jetzt das Kulturzentrum „Ugur Mumcu“ seine Heimat. Aus dem Kirchenschiff wurde ein Theatersaal. Eine Gruppe frustrierter Künstler ist gerade dabei, die Requisiten des letzten Stückes einzupacken. Die Theatergruppe sieht schwarz für die Zukunft. „Unsere einzigen Sponsoren sind unsere Zuschauer. Und die kommen jetzt nicht mehr“, beschwert sich ein Nachwuchstalent.
Die Gruppe hat viel Zeit und Arbeit in ihr Kulturzentrum gesteckt und einige politische Händel mit den Honoratioren der Stadt durchgefochten. Zum Beispiel den Namen des Zentrums. „Ugur Mumcu“ war ein prominenter linker Journalist, der vor fünf Jahren von Rechtsradikalen, die vermutlich mit staatlichen Behörden zusammenarbeiteten, umgebracht wurde. Ausgebaut wurde das Kulturzentrum mit Hilfe einer Spende von Siemens. Der deutsche Konzern ist der größte Arbeitgeber in Mudanya. Er läßt dort Kabel produzieren.
Im Café gegenüber dem Schiffsanleger entrüstet sich ein Gast über die Preise. Seit hier jede Menge Journalisten eingefallen sind und das Cafe zu ihrem Beobachtungsposten auserkoren haben, hat der Wirt zugeschlagen. Auch die Besitzer der beiden Hotels am Ort gehören zu den wenigen Gewinnern der Öcalan-Affäre. Ein Zimmer, zu normalen Zeiten für umgerechnet 25 Mark zu haben, kostet jetzt 125 Mark, und es ist absehbar, daß, wenn der Prozeß erst einmal begonnen hat, die Hotelpreise weiter in rasante Höhen klettern werden. Nach den spärlichen Informationen, die zur Zeit über den Prozeß durchsickern, wird für Journalisten Mudanya der nächstgelegene Ort zum eigentlichen Geschehen bleiben. Türkische Kollegen wissen zu berichten, daß lediglich das Staatsfernsehen TRT und die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu Zugang nach Imrali bekommen sollen. Die Stapel von Anträgen, die sich aus aller Welt auf den Tischen des Presse- und Informationsamtes häufen, werden wohl im Papierkorb landen. Für Vertreter gewöhnlicher Medien soll in Mudanya ein Pressezelt aufgebaut und die Verhandlung per Video übertragen werden.
Seit der Schiffsanleger in Mudanya das Tor zu Öcalans Gefängnis symbolisiert, ist der Ort außer auch zum Tummelplatz türkischer Neofaschisten geworden. Als eine Gruppe von vier Anwälten vor Wochen das erste Mal versuchte, Zugang zu Öcalan zu bekommen, wurden sie angepöbelt und ihr Auto mit Steinen beworfen. Die Attaken waren so massiv, daß Ahmet Zeki Okcuoglu, der zusammen mit seinem Bruder der Hauptverteider Öcalans ist, das Mandat eigentlich nicht annehmen wollte.
Während in Mudanya gedrehte Fernsehbilder von dem ersten Versuch der Anwälte, nach Imrali zu kommen, suggerierten, daß es sich bei der Menge um aufgebrachte Bürger handelt, weiß man heute, daß dahinter die rechtsextreme Partei der Nationalen Bewegung (MHP) und der Verband der Angehörigen gefallener Soldaten stecken. „Die waren nicht von hier“, sagt ganz entschieden einer aus der Schaupielergruppe vom „Ugur Mumcu“-Kulturhaus, die MHP hat hier nicht viele Leute. Die meisten kamen wohl aus Bursa. Bursa ist die nächstgelegene Großstadt auf dem Weg nach Mudanya und als konservative Hochburg bekannt. Anscheinend hat die MHP Beobachter in Mudanya stationiert, die ihre Leute per Handy mobilisieren, wenn sich in der Stadt etwas tut.
Wann immer die Anwälte Öcalans auftauchen, ist die MHP da. Da das Gericht mittlerweile immer Dienstag und Freitag als Besuchstage festgelegt hat, ist es auch für Faschos und Angehörigenverband kein Problem mehr, an diesen Tagen vor Ort zu sein. „Unsere Hauptaufgabe hier“, widerspricht einer der Polizeioffiziere in Mudanya den Eindrücken Okcuoglus, „ist es, die Anwälte zu schützen.“
Das gelingt in Mudanya mittlerweile halbwegs. Die Anwälte werden gleich mit dem Polizeiwagen durch die Menge zum abgesperrten Anleger gebracht werden. Andernorts bleibt die Verteidigung Öcalans aber ein reines Spießrutenlaufen. Bei der Verhandlung des Staatssicherheitsgerichts in Ankara am 24. März, während der der Beschluß gefaßt wurde, zukünftig auf Imrali zu verhandeln, wurden die Anwälte erneut fast gelyncht. Vor dem Gericht hatte sich wieder ein MHP-Trupp versammelt, und im Gebäude demonstrierte der Angehörigenverband, weil es bei der Sitzung des Gerichts auch darum gehen sollte, ob Angehörige als Nebenkläger auf Imrali zugelassen werden. Um lebend aus dem Gerichtssaal zu gelangen, entschlossen sich die Anwälte schließlich auf Anraten der Polizei, das Gebäude durch Fenster und über den Hinterhof zu verlassen.
Innerhalb der kommenden zwei Wochen soll die Anklage gegen Öcalan von den Staatsanwälten des Staatssicherheitsgerichts fertiggestellt werden. Spätestens 15 Tage nachdem die Anklage bei Gericht eingereicht wurde, muß der Prozeß beginnen. So lange haben die Anwälte Zeit, sich vorzubereiten. Nach dem, was bislang aus der Umgebung des Anwaltsteams bekanntgeworden ist, soll die Verteidigung darauf aufgebaut werden, daß Öcalan der türkischen Regierung in der Vergangenheit häufiger Verhandlungen angeboten hat und zweimal einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen ließ, zuletzt im Herbst letzten Jahres.
Eine Erklärung, die der PKK- Chef durch seine Anwälte unmittelbar vor Beginn des Opferfestes verbreiten ließ, ist denn auch ganz auf Frieden abgestellt. Öcalan verurteilt die Anschläge in den türkischen Städten und fordert die türkische Regierung erneut auf, seine Gefangennahme zu einer Lösung der kurdischen Frage auf der Grundlage von „Einheit, Brüderlichkeit und Frieden“ zu nutzen. Öcalan ist laut seinen Anwälten von der Außenwelt vollständig abgeschirmt. Anders ist kaum zu erklären, daß der PKK-Chef immer noch hofft, Imrali könnte für ihn werden, was Robben Island für Nelson Mandela war.
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