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Das Münchensyndrom

Die Außenpolitik Madeleine Albrights wird von ihrer tragischen Familien- und Lebensgeschichte mitbestimmt  ■ Aus Washington Peter Tautfest

„Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß meine Lebensgeschichte zugleich die Geschichte des Bösen und des Totalitarismus sowie der Verirrungen Europas im 20. Jahrhundert ist. Heute füge ich zu den Werten, die mir heilig sind, und zu den Facetten, die meine Persönlichkeit ausmachen, das Wissen hinzu, daß meine Großeltern und viele meiner Familienangehörigen während des Holocaust, der größten Katastrophen der Geschichte der Menschheit, umgekommen sind.“ Mit diesen Worten trat Madeleine Albright im Juli 1997 nach einem Besuch der Prager Pinkas Synagoge vor die Presse. Nach Prag war sie gekommen, um Tschechien zum Nato-Beitritt aufzufordern. Doch ein persönlicher Grund führte sie in die Synagoge.

Unter den 77.294 Namen, die dort verewigt sind, stehen auch die ihrer Großeltern. Albright wurde 1937 als Marie Jana Körbelova geboren und wuchs in Unkenntnis ihrer jüdischen Herkunft auf. Ihr Vater, der Diplomat Joseph Körbel, hatte sie ihr verschwiegen, um seiner Tochter vor dem Wissen um die Grauen des Holocaust zu schützen – nicht viel anders als Roberto Benigni im Film „Das Leben ist schön“ seinem Sohn die Wahrheit des Konzentrationslagers zu ersparen sucht.

Die jüdische Herkunft blieb Albright trotz verschiedener Hinweise bis 1997 verborgen. Ihre Jugendjahre waren vom wechselnden Schicksal Europas sowie von der aufgezwungenen Zurückhaltung geprägt, mit der ihre jüdische Familie sich durch die christliche Alte Welt bewegte. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr zog sie jedes Jahr um und lebte auch kurze Zeit in Belgrad, wohin ihr Vater im November 1945 als Botschafter geschickt worden war. Er wurde nach der Übersiedlung der Familie in die USA 1948 in der kommunistisch gewordenen Tschechoslowakei in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

„Obwohl in den 50ern groß geworden gehört Madeleine Albright zu jenen amerikanischen Politikern, deren Weltbild vom Zweiten Weltkrieg geprägt ist,“ schreibt der ihr Biograph Michael Dobbs im New Yorker.

„So wie Kissingers Weltsicht vom Aufstieg Hitlers und Zbigniew Brzezinskis von der Machtergreifung der polnischen Kommunisten geprägt sind, ist ihre Vorstellung von der Rolle und Stellung Europas nach dem Kalten Krieg, von den Erfahrungen ihrer Familie in Europa und der Rolle Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt.“ Bei ihrem Pragbesuch antwortete sie auf die Frage nach dem, was sie als Lehre aus dem Münchner Abkommen von 1938 selbst ihren „Münchenkomplex“ nennt: „München hat mich gelehrt, daß Probleme, die nicht rechtzeitig angegangen werden, letztlich Amerika heimsuchen.“

Als UNO-Botschafterin erklärte sie einmal während des Bosnien- Kriegs, sie könne sich jetzt besser vorstellen, wie es 1938 in Mitteleuropa zugegangen sei. Als Außenministerin bestand sie im März 1998 darauf, daß Milošević im Kosovo nicht gestattet werden dürfe, was er in Bosnien nicht hatte erreichen können. Albright war immer mit zwei amerikanischen Syndromen konfrontiert: dem Vietnamsyndrom, das jedes Eingreifen verbietet, und dem Golfsyndrom, das eine Intervention an den Einsatz mindestens einer halben Million Soldaten knüpft. Sie selbst rechnet sich zu einer dritten, der „Münchenfraktion“. Die plädiert für die frühzeitige Anwendung von Gewalt, um Probleme zu lösen, die sonst nur größer werden und dann doch nach Amerika kommen.

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