: Befreiung aus der Sprachlosigkeit
Völlig gelähmte Patienten können mit Hilfe von Computern wieder mit ihrer Umwelt kommunizieren. Gesteuert wird der Computer durch die Hirnaktivität. Selbst Briefe können so wieder geschrieben werden ■ Von Claudia Borchard-Tuch
„Eine riesige Taucherglocke, die meinen ganzen Körper gefangen hält“, beschrieb der Schriftsteller Jean-Dominique Bauby seine Empfindungen nach einem Schlaganfall, der ihn vollständig lähmte, jedoch sein Fühlen und Denken unbeeinträchtigt ließ. Auch andere Nervenerkrankungen, bei denen die nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung ausfällt, können diese Horrorvision Wirklichkeit werden lassen. Können nicht einmal die Augenmuskeln bewegt werden, kommt es zu einem vollständigen locked-in, also Eingeschlossensein. Diese Patienten können ihrer Umwelt absolut nichts mehr mitteilen. Es bleibt ihnen nur ein Ausweg: die elektrische Gehirntätigkeit als Kommunikationsmittel einzusetzen.
Eine Tübinger Forschungsgruppe unter der Leitung von Professor Niels Birbaumer entwickelte eine Technik, die Locked-in- Patienten aus ihrem Eingeschlossensein befreit. Mit Hilfe willentlich veränderbarer Hirnwellen steuern die Patienten einen Cursor auf einem Computerbildschirm und wählen so Buchstaben und Worte aus.
Norbert Bittner* ist seit sieben Jahren an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt; seit drei Jahren wird er künstlich beatmet und ernährt. Von dieser Erkrankung, die zu einem Untergang von Nervenbahnen führt, sind etwa fünf von hunderttausend Menschen betroffen. Der berühmteste ALS-Patient ist wohl der britische Physiker Stephen Hawking, der sich mittlerweile nur noch im Rollstuhl fortgewegen kann. Nach und nach fällt die Steuerung der Muskulatur aus, und es kommt zu Lähmungen und Muskelschwund. Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt, eine Heilung nicht möglich. Unaufhaltsam fortschreitend, führt sie nach einigen Jahren zum Tode.
Zur Zeit kann sich Norbert Bittner noch durch Augen- und Nasenbewegungen verständigen, doch bald wird dies nicht mehr möglich sein, so daß es sehr wichtig für ihn ist, die Verständigung mittels Hirnwellen zu erlernen. Zur Messung seiner Hirnströme werden mehrere Elektroden am Kopf angebracht. Eine bestimmte Art der Hirnwellen, die langsamen Hirnrindenpotentiale, zeigt an, ob sein Gehirn unter der Elektrode erregt oder gehemmt ist.
Bittner lernt, die langsamen Hirnrindenpotentiale willentlich zu beeinflussen, indem er seine Gedanken Fußball spielen läßt. Dabei werden die von den Elektroden gemessenen Hirnstromaktivitäten über einen Verstärker auf einen Computer übertragen und auf einem Bildschirm sichtbar gemacht. Auf diesem Monitor sieht Bittner oben und unten ein Tor und in der Mitte ein quadratisches Zeichen, den Ball. Diesen Ball kann Bittner mit seinen Hirnströmen bewegen. Wenn eines der beiden Tore aufleuchtet, soll er den Ball in dieses Tor schießen. Für den Flug ins obere Tor muß er sein Gehirn etwas mehr, für den ins untere Tor etwas weniger aktivieren. Wird das Tor innerhalb von 20 Sekunden nicht getroffen, verschwindet die Markierung, um dann wieder erneut am gleichen oder am anderen Tor aufzuleuchten.
Ziel des Trainings ist es, ein Computerprogramm steuern zu können. Wie das genau geschieht, legt der Patient selbst fest. Weil sich die Hirnströme verschiedener Menschen unterscheiden, muß das Verfahren individuell angepaßt werden. Auch das Computerprogramm richtet sich nach dem Patienten. So kann das Menü ganze Sätze enthalten, die eine Verständigung erleichtern. Das Alphabet kann abgerufen werden, so daß der Patient selbständig Sätze formulieren kann, ohne daß er auf das Abfragen der Buchstaben durch Angehörige oder Pfleger angewiesen ist.
Ähnliche Versuche werden auch an der Emory Universität in Atlanta, im US-Bundestaat Georgia, durchgeführt. Dort werden jedoch die Elektroden direkt in die Hirnrinde von ALS-Patienten implantiert. Eine erste Patientin, die vor rund zwei Jahren operiert wurde, konnte sich so immerhin wieder mit ihren Angehörigen verständigen – 76 Tage lang, dann verstarb sie an der tödlich verlaufenden Krankheit.
Der Tübinger Patient Bittner möchte als erstes wieder Schach spielen. Er hat gute Chancen, daß ihm dies bald gelingen wird: Wie die Forschungsergebnisse zeigten, ist nach einer Trainingszeit von zwei Monaten eine zuverlässige Steuerung eines Computers möglich. Persönlichkeitseigenschaften, Vorstellungsfähigkeit und Intelligenz spielen kaum eine Rolle auf dem Weg zum Erfolg. Entscheidend ist vielmehr die Bereitschaft des Patienten, sich anstrengen und konzentrieren zu wollen.
Obwohl utopisch anmutend, ist die Idee, den Geist direkt zur Gerätesteuerung einzusetzen, nicht neu. Bereits 1967 beschrieb Edmond Dewan Experimente, in denen er Personen an ein Elektroenzephalogramm anschloß, das deren elektrische Gehirnaktivitäten aufnahm. Nach einer Übungsphase waren alle Versuchspersonen in der Lage, bestimmte Hirnwellen willentlich abzuflachen und dadurch einen Morsecode zu erzeugen, den sie an einen Fernschreiber weiterleiten konnten.
Die Erforschung gedankengesteuerter Maschinen wurde in den siebziger Jahren vorangetrieben, als das amerikanische Verteidigungsministerium plante, Kampfflugzeuge durch die Hirnstromaktivitäten der Piloten zu steuern. Da der Forschungserfolg mit der damaligen Technologie sehr begrenzt war, wurde das Projekt bald abgesetzt. Aber der Grundstein zu einem wichtigen Forschungsgebiet war gelegt worden, das schnell wuchs.
Für die Epilepsie, die relativ häufig vorkommende Fallsucht, ist die Hirnstromkontrolle bereits als Therapie etabliert. Etwa eine Million Menschen in Deutschland leiden an Epilepsie, und 30 Prozent aller Patienten mit Epilepsie sprechen nicht auf antiepileptische Medikamente an. Nur einem Bruchteil dieser Patienten kann durch neurochirurgische Entfernung der Hirnregionen mit epileptischen Herden geholfen werden, die übrigen Patienten sind den Folgen der Krampfanfälle mit zum Teil erheblichen Hirnleistungsstörungen schutzlos ausgeliefert. Für diese große Patientengruppe entwickelte die Tübinger Forschungsgruppe ein Training zur Selbstkontrolle langsamer Hirnpotentiale, die es dem Patienten ermöglicht, schon bei ersten Anzeichen eines herannahenden Anfalls diesen durch eine selbst erzeugte Hemmung zu unterdrücken.
Untersuchungen zeigten, daß einem Drittel der Patienten eine nahezu völlige Kontrolle ihrer Anfälle gelang, ein Drittel wies eine Reduktion auf, und ein weiteres Drittel konnte die Kontrolle nicht erlernen. Angesichts der Tatsache, daß alle Patienten mehr als zwei Anfälle pro Monat, einige sogar bis zu 20 pro Tag hatten und kein Medikament mehr eine Besserung brachte, handelt es sich um einen erstaunlichen Erfolg.
Wie lernt man es, seine Hirnströme zu steuern? Kernspintomogramme zeigen, daß vordere Hirnregionen für die Selbstkontrolle eine zentrale Rolle spielen: Selbstregulierung führt immer zu einer Durchblutungserhöhung in diesen Gebieten. „Das sind die Teile, die die Aufmerksamkeit steuern“, erklärt Birbaumer. „Sie sind generell wichtig für die Selbstkontrolle, alle Entscheidungen und langfristiges Planen.“
Aber wie man es schafft, die vorderen Hirnareale besser zu durchbluten und seine Hirnwellen zu beeinflussen, darauf gibt es nur eine orakelhaft klingende Antwort: Man muß es selbst herausfinden. Manche Patienten denken einfach bei dem durch Aktivität anzusteuernden Monitorsymbol mehr, bei dem anderen weniger.
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