: Sauber dokumentiertes Sterben
Morgen kommen Angehörige der 20 Kinder nach Hamburg, die vor genau 54 Jahren am Bullenhuser Damm ermordet wurden ■ Von Karin Flothmann
Ihre Oberkörper sind nackt. Ein Arm ist in die Höhe gereckt. Die Achselhöhlen liegen bloß. Nur wer genau hinschaut, entdeckt dort eine Narbe. Einige der Kinder schauen unbefangen in die Kamera. Bei anderen ist das Gesicht nur schemenhaft zu erkennen. Zwanzig Fotos zeigen zwanzig jüdische Kinder in immer gleicher Körperhaltung. Aufgenommen wurden die Fotografien 1945, um ein medizinisches Experiment zu dokumentieren. Die Nazis waren gründlich, auch ihre Ärzte.
Entdeckt wurden die Aufnahmen erst Mitte der 60er Jahre, und zwar im Privatbesitz des damals in Magdeburg praktizierenden „Lungenfacharztes“ Kurt Heißmeyer – bei eben jenem Mann, der sich im November 1944 zwanzig Kinder aus Auschwitz ins Konzentrationslager Neuengamme schicken ließ, um an ihnen medizinische Experimente durchzuführen. Der SS-Arzt impfte die Kinder mit lebenden Tuberkulose-Erregern und operierte ihnen die Lymphdrüsen unter den Armen heraus. Nach diesen Operationen entstanden die Fotos.
Für Lola Steinbaum ist das kleine Bild, auf dem der zehnjährige Marek Steinbaum zu sehen ist, das einzige Foto, das sie von ihrem Bruder kennt. Morgen will die US-Amerikanerin erstmals nach Hamburg kommen, um in der Schule am Bullenhuser Damm an der Gedenkfeier für Marek und die 19 anderen Kinder teilzunehmen. Denn hier wurden sie am 20. April 1945 von der SS ermordet.
Heißmeyers Versuche, mit denen er nachweisen wollte, daß „rassisch minderwertige“ Menschen für TBC anfälliger sind als „hochwertige“, waren im März 1945 abgeschlossen. Weil die Alliierten immer weiter vorrückten, wollte Heißmeyer die Spuren seiner Experimente verschwinden lassen. Die SS-Führung entschied, daß die Kinder und ihre Betreuer umgebracht werden sollten. Um die Morde geheimzuhalten, wurde Marek Steinbaum zusammen mit den anderen schwerkranken Kindern in die Schule am Bullenhuser Damm in Rothenburgsort gebracht. Hier unterhielt die SS ein Außenlager des KZ Neuengamme.
Auch Philippe Kohn wird morgen aus Paris anreisen, um an der Gedenkfeier in Rothenburgsort teilzunehmen. Zusammen mit seiner Familie war er 1944 von der Gestapo verhaftet worden und sollte nach Auschwitz deportiert werden. Philippe gelang die Flucht. Seinem Bruder Georges-André nicht. Er ist eines der Kinder vom Bullenhuser Damm.
Am 20. April 1945 war Georges-André Kohn der erste, der von dem SS-Rottenführer Johann Frahm im Keller der Schule erhängt wurde. Nachdem der für die Ermordungen zuständige SS-Standortarzt Alfred Trzebinski ihm Morphium gespritzt hatte, schlief der Zwölfjährige ein. Vor Gericht erinnerte sich Trzebinski später: „Frahm nahm den Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen anderen Raum, und dort sah ich schon die Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Schlinge sich zuzog.“ Die Leichen der Kinder wurden im Krematorium von Neuengamme verbrannt. Ihre Asche liegt auf den Feldern rund um das ehemalige KZ.
Nach dem Krieg setzten die Engländer ein Militärgericht ein, das auch die Kindermorde aufklärte. Frahm, Trzebinski und andere beteiligte SS-Männer wurden zum Tode verurteilt. Der Arzt Trzebinski hielt sich bis zuletzt für unschuldig. Bevor er am 8. Oktober 1946 hingerichtet wurde, sagte er: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Erst achtzehn Jahre später wurden die DDR-Behörden auf Kurt Heißmeyer in Magdeburg aufmerksam. Im Juni 1966 verurteilte ein DDR-Gericht den SS-Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft. Ein Jahr später starb Heißmeyer. An die Kinder, die von ihm gequält worden waren, erinnerten sich zu dieser Zeit nur noch ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme. Jedes Jahr am 20. April kamen sie mit Blumen zum Bullenhuser Damm.
Erst 1979, vor genau zwanzig Jahren, trafen sich erstmals auch Angehörige, um gemeinsam zu trauern. Zusammengeführt wurden sie von dem Journalisten Günther Schwarberg, der im gleichen Jahr in einer Serie im Stern auf das Schicksal der jüdischen Kinder aus Polen und Jugoslawien, Frankreich, Italien und den Niederlanden aufmerksam gemacht hatte. Philippe Kohn und andere Angehörige gründeten die „Vereinigung der Kinder vom Bullenhuser Damm“. Diese Vereinigung unterhält seither im Keller der ehemaligen Schule in Rothenburgsort eine kleine Gedenkstätte. Und sie sorgt alljährlich dafür, daß am 20. April eine Feier stattfindet.
Morgen wird der israelische Botschafter in Bonn, Avi Primor, dabeisein. Erstmals will sich dann auch Hamburgs Kultursenatorin Christina Weiss ein Bild machen – vom Gedenken und von der Stätte, an der es geschieht.
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