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„Als ich starb, war ich zwölf Jahre alt“

Gedenkfeier für die ermordeten Kinder vom Bullenhuser Damm  ■ Von Karin Flothmann

Der Zehnjährige spricht mit leichtem Akzent: „Mein Name ist Marek Steinbaum“, sagt er „ich war sechs Jahre alt, als die SS mich erhängte.“

„Von mir weiß man nicht einmal den genauen Vornamen“, sagt ein anderer. „W. Junglieb heiße ich. Ich komme aus Jugoslawien. Als ich starb, war ich zwölf Jahre alt.“

Zwanzig Schicksale von 20 jüdischen Kindern, erzählt von Kindern der 5. Klasse der Schule Osterbrook. Ernst und gewissenhaft lesen die SchülerInnen vom Blatt ab und sprechen von Kindern, die in ihrem Alter waren. Von Kindern, die in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 hier im Keller der Schule am Bullenhuser Damm von der SS erhängt wurden. So sollten die Spuren medizinischer Experimente verwischt werden, die ein SS-Arzt an den Kindern durchgeführt hatte.

„Warum lebe ich in einem Land, in dem so etwas geschehen konnte“, fragte sich der israelische Botschafter in Bonn, Avi Primor, als er vor vier Jahren vom Schicksal der Kinder vom Bullenhuser Damm erfuhr. Gestern, auf der Gedenkveranstaltung, wußte er die Antwort. Immerhin seien es Deutsche gewesen, wie der Journalist Günther Schwarberg, die die Erinnerung an das Geschehen wachhielten. Schwarberg war es, der vor 20 Jahren Angehörige der Kinder ausfindig machte und mit ihnen zusammen die „Vereinigung der Kinder vom Bullenhuser Damm“ gründete. „Es gibt wenige Beispiele, die mich so beeindrucken“, sagte Primor.

Unter Basketballkörben hat sich in der Turnhalle der ehemaligen Schule in Rothenburgsort der Cantilene-Kinderchor des Helene-Lange-Gymnasiums aufgestellt. Zu Beginn der Feier singt er ein hebräisches Lied des Friedens, an ihrem Ende steht das jüdische Totengebet Kaddish. Rund 200 BesucherInnen beten still und ergriffen mit.

Unten im Keller, dem Ort des Verbrechens, riecht es nach frischem Lorbeer, gestiftet von Bürgerschaft und Senat. Vor Beginn der Feierstunde besuchten viele noch die kleine Gedenkstätte, die hier von Angehörigen der toten Kinder eingerichtet wurde. Hamburgs Kultursenatorin Christina Weiss war gestern erstmals in den Räumen. Sie werde, so beteuert sie, dafür sorgen, daß die Gedenkstätte erhalten bleibe, dann nicht mehr als privater Verein, sondern in Trägerschaft der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Philippe Kohn aus Paris wird das freuen. Sein Bruder Georges-André war eines der 20 ermordeten Kinder. „Er war ein kleiner Junge wir ihr, die ihr hier sitzt“, erzählt er, und einige Schüler, die vorher tuschelten, schauen erschrocken. Kohn wurde mit seiner Familie 1944 aus Paris deportiert. Ihm geland damals die Flucht. Er sprang vom Zug, der ihn nach Auschwitz bringen sollte. „Der einzige Vorwurf, den ich mir heute mache, ist der, daß ich damals meinen Bruder nicht mitgekommen habe.“ Die Mutter verhinderte das. Sie hatte Angst um den jüngeren Georges-André und meinte, er könnte sich beim Absprung ein Bein brechen.

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