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Die Freude in der Schlange

■  Viele tausend Menschen nahmen gestern wieder endlose Wartezeiten in Kauf, um den Reichstag zu besichtigen. Wer viereinhalb Stunden mit dicken Beinen durchgehalten hatte, durfte schließlich rein

Auch gestern glich das Szenario in und um den Reichstag wieder einem Volksfest. Bei Sonnenschein hatten sich noch mehr Menschen als in den vergangenen Tagen auf den Weg gemacht, um hautnah den Ort zu erleben, von wo aus in Zukunft die Geschicke der Republik bestimmt werden.

„Liebe Besucher des Reichstages“, empfängt die Polizei die Menge mit Durchsagen, „bitte stellen Sie sich auf dem Gehweg der Straße Unter den Linden an! Die Wartezeit beträgt viereinhalb Stunden.“

Tapfer, wer da nicht den Mut verliert – und das sind viele.

Auf dem Fußweg, fast auf Höhe des russischen Ehrenmals: Friedrich Schwarz, angereist mit Frau und Kind aus Schwerin, nimmt es locker: „Anstehen muß man auch in den Vergnügungsparks in den USA.“

Einige hundert Meter weiter, an der Ecke zur Ebertstraße: Yvonne C. glaubt nicht, daß es so lange dauern wird, wie die Polizei behauptet, und hat sich ein Limit von anderthalb Stunden gesetzt. Wenn sie dann noch nicht drin ist, geht sie nach Hause.

Weiter zieht sich die Schlange Richtung Reichstag, vorbei an Souvenirverkäufern, Bier – und natürlich wieder Würstchenbuden. An einem Stand für China-Fast-food gibt es außerdem „original Steine von Reichstag“, klein, mittel oder groß. Vom Portal seien die und „legal beschafft.“

Irgendwann ein Schild, das den Wartenden Mut macht: „Noch 60 Minuten“. Trip-Pop aus Lautsprechern hält die Menge bei Laune. Reiner Spora aus Berlin freut sich, daß er sich beim Warten gut unterhalten konnte – mehr als anderthalb Stunden hatte er dazu jetzt schon Gelegenheit. Martin Prignitz, ebenfalls Berliner, will sehen, „wo die ganzen Steuergelder hingegangen sind“.

Dann geht es in kleinen Gruppen über die Scheidemannstraße, der Wachschutz paßt auf, daß hier keiner in abgesperrte Bereiche gelangt. Wieder ein Schild: „Noch 30 Minuten“. Thorsten Richter, der extra aus Magdeburg gekommen ist, will sehen, „wie Altes mit Neuem verbunden wurde“, und hat zwei Stunden Wartezeit hinter sich; Dr. Marina Sandmann aus Berlin möchte vor allem ein Bild des russischen Künstlers Grischa Brunskin sehen.

Endlich auf der Treppe des ehrenwerten Gebäudes – es ist geschafft. Frischer als alle anderen eine Gruppe Jugendlicher. Wie lange sie gewartet hätten? „10 Minuten“, freuen sie sich blöde, „einfach dran vorbei und gesagt, wir hätten unsere Gruppe verloren.“ Vorfreude – schönste Freude. Leider verloren. Tobias Hinsch

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