: Wahnsinnig vernünftig
■ „Verrückte Diskurse“ finden an der FU Berlin am Lehrstuhl für Wahnsinn statt
Unter dem Titel „Verrückte Diskurse“ finden in diesem Semester am Institut für Psychologie der FU-Berlin gleich drei Seminare des „Lehrstuhls für Wahnsinn“ statt. Dieser wurde vor einem Jahr vom Werner-Fuß-Zentrum , einem Verband von drei psychiatriekritischen Organisationen, in der Folge des im April 1998 inszenierten Foucault-Tribunals ins Leben gerufen. Auf der Anklagebank damals wie heute: die Zwangspsychiatrie. Hauptforderung des Tribunals: psychiatrischen Zwang als Menschenrechtsverachtung zu verurteilen. Dazu bedarf es außer rechtlicher Änderungen erst einmal einer Öffentlichkeit und eines Platzes, von dem aus man die herrschende Psychiatrie angreifen kann.
Ein solcher Ort par exellence ist die Universität. „Nur wenn man ans Zentrum der Macht geht, hat man eine Chance, diese zu brechen“, so René Talbot, einer der drei Dozenten zum Thema „Verrückte Diskurse“. Er ist Mitglied der Irren-Offensive e. V., einer im Werner-Fuß-Zentrum beherbergten Selbsthilfeorganisationen Psychiatrie-Erfahrener, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Antipsychiatrie politisch durchzusetzen und ihre Belange öffentlich zu machen.
Um seine Interessen gewahrt zu wissen, berief das Werner-Fuß-Zentrum die drei Dozenten für ihren Lehrstuhl selbst. Die Universität sei der Ort, an dem der Wahnsinn, die Zwangspsychiatrie, unterrichtet würde. Deshalb sei man an die Uni gekommen und klage einen Lehrstuhl ein, erklärt Talbot. Der letztjährige Versuch, sich am Institut für Philosophie anzusiedeln, scheiterte jedoch.
So existiert auch heute noch kein wirklicher Lehrstuhl für Wahnsinn. Vielmehr handelt es sich um die Zurverfügungstellung einer Lehrbefugnis. Diese überläßt in diesem Semester der Psychologie-Professor Bruder. Mit seiner Schirmherrschaft für den „Lehrstuhl für Wahnsinn“ will er der kritischen Psychologie mehr Raum verschaffen, um so ein Gegengewicht zur immer noch dominierenden klassischen Psychiatrie zu stärken. Er sehe überdies in dem Angebot der drei Seminare eine Chance für die Studenten, direkt etwas über verrückte Diskurse zu erfahren und mit Leuten in Kontakt zu kommen, die sich in solchen Diskursen bewegen. Das Interesse der Studenten jedenfalls ist groß. 80 Personen sind zur Vorstellung der Seminare erschienen. Zweieinhalb Stunden später sind immer noch 40 anwesend. Nun wird gefeiert: Das einjährige Jubiläum des Lehrstuhls für Wahnsinn. Und darauf angestoßen, daß eines Tages aus dem Projekt ein echter Lehrstuhl für Wahnsinn wird. Die Unterstützung des Astas ist ihnen dabei schon einmal gewiß. Claudia Wagner
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