: „Viele Chemikalien würden ihren Elchtest nicht bestehen“
■ Michael Rieß, Sprecher des Bundesarbeitskreises Umweltchemikalien und Toxikologie des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), fordert eine Beweislastumkehr bei der Risikoabschätzung von Chemikalien und Stoffkreisläufen
taz: Wie ließe sich die Überprüfung der existierenden Chemikalien in der EU beschleunigen?
Michael Rieß: Bislang wurde das Verfahren der Risikobewertung vorgeschoben, um nicht handeln zu müssen. Hier fehlten der politische Wille und die Kooperationsbereitschaft der Industrie. Um diesem Blockadekartell zu begegnen, fordert der BUND die politische Durchsetzung folgender Prinzipien: Konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzips, Minimierung jeglicher Stofffreisetzung, Verschlechterungsverbot für den Zustand der Umwelt, vordringliche Betrachtung ökologisch beziehungsweise gesundheitlich relevanter Stoffströme und Gefahrstoffabgaben nach dem Verursacherprinzip.
Welche konkreten Schritte schlagen Sie vor?
Wir fordern – erstens – für alle Stoffe schnellstmöglich einen vollständigen Datensatz nach dem Chemikaliengesetz, mit klaren Fristen und öffentlich überprüfbaren Zwischenschritten. Für den Unterlassungsfall muß es Restriktionen geben. Zweitens: Das Ziel, alle Freisetzungen gefährlicher Stoffe innerhalb von 25 Jahren zu beenden, wie es 1998 auf einer Konferenz formuliert wurde, ist nur zu erreichen, wenn sofort Maßnahmen aufgrund sogenannter inhärenter Eigenschaften der Chemikalien getroffen werden. Eigenschaften wie Langlebigkeit oder Bioakkumulationsfähigkeit müßten bereits heute zu Regulierungen führen – also der Weg, den die Schweden jetzt einschlagen. Langfristige Untersuchungen wären dann nur für Stoffe ohne bereits bekannte negative stoffinhärente Wirkungen durchzuführen. So würde die Zahl der vollständig zu untersuchenden und staatlicherseits zu bewertenden Stoffe drastisch reduziert.
Der BUND fordert eine Beweislastumkehr bei der Risikobetrachtung für Stoffe und Stoffströme – wie wäre das Ihrer Meinung nach zu realisieren?
Die globale Überraschungsgeschichte des Chemikalieneinsatzes belegt, daß die meisten heute eingesetzten Substanzen ihren „Elchtest“ nicht bestehen würden. Wir brauchen Instrumente, die Hersteller und Inverkehrbringer endlich zwingen, ihrer Produktverantwortung nachzukommen. Unter Beweislastumkehr verstehen wir, daß der Hersteller gegenüber der Gesellschaft jederzeit die volle Verantwortung für die Unbedenklichkeit seines Produktes übernimmt. Dieses gilt auch für noch nicht abschätzbare Langzeitfolgen. Nach dem Verursacherprinzip sind solche Schäden durch entsprechende finanzielle Rückstellungen abzusichern.
Gibt es seitens des Umweltministeriums (BMU) Kontaktaufnahme mit den Umweltverbänden, um ein neues chemiepolitisches Instrumentarium zu entwickeln?
Zur Zeit ist für uns nicht ersichtlich, ob das BMU die langjährig gepflegte Sprachlosigkeit aufgibt und in einen konstruktiven Dialog mit den Umweltverbänden eintritt. Bislang ist es noch so, daß die neue Bundesregierung chemiepolitische Positionen mit dem Verband der chemischen Industrie abstimmt, während die Umweltverbände nur nachträglich informiert werden. Der BUND kann daher bislang keine Änderung der Chemiepolitik des BMU erkennen. So sehen wir nicht, daß – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ umgesetzt werden. Interview: Wiebke Rögener
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