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Tausend Jahre Untätigkeit

In 25 Jahren sollen keine gefährlichen Chemikalien mehr auf dem Markt sein. Über 100.000 Substanzen müssen noch einer Risikoabschätzung unterzogen werden. Bisher liegen nur für einige Substanzen Daten vor  ■ Von Wiebke Rögener

Nicht aus den Schornsteinen und Abwasserrohren der Industrie entweicht heute der größte Teil der Chemikalien, die Menschen und Umwelt gefährden. Sie stammen vor allem aus den produzierten Waren: Flammschutzmittel aus Autopolstern und Computern, Weichmacher aus Kinderspielzeug und Farben, hormonähnliche Substanzen aus Reinigungsmitteln und Unkrautvernichtern.

Wo all diese Stoffe bleiben und was sie anrichten, ist weitgehend unbekannt. „Toxic Ignorance“ lautete der Titel einer Studie, die der U.S. Environmental Defense Fund vor einem Jahr veröffentlichte. Sie zeigte, daß amerikanische Behörden höchst wenig über die dort auf dem Markt befindlichen Chemikalien wissen. In Europa existiert zwar eine umfangreiche Gesetzgebung zum Chemikalienrecht. Doch Gerd Winter, Experte für Umweltrecht an der Universität Bremen, stellte Ende April auf der Tagung „Reforming the European Regulation of Dangerous Chemicals“ in Bielefeld fest: Faktisch herrscht auch hier gefährliche Unwissenheit.

Zu Beginn der achtziger Jahre hatten die EU-Staaten sich auf ein Zulassungsverfahren für neue Chemikalien verständigt. Erst 1993 erließen sie eine Regulierung für schon existierende Stoffe. Das European Inventory of Existing Chemicals (Einecs) enthält nicht weniger als 100.006 Substanzen, für die demnach Risikoüberprüfungen („Risk Assessments“ ) vorzunehmen sind. Wie viele davon tatsächlich auf dem Markt sind, weiß keiner so genau: Vibeke Bernson von der schwedischen Kemikalieinspektionen (Kemi) sprach in Bielefeld von 20.000 bis 40.000 Stoffen, Greenpeace schätzt bis zu 70.000 Substanzen. Davon werden 4.000 als hochproblematisch eingestuft und sollen vorrangig beurteilt werden. Doch bis heute liegen nur für etwa 300 dieser Stoffe Daten vor. So wurde eine weitere Liste mit 110 Substanzen höchster Priorität erstellt. Eine Risikobeurteilung entsprechend der EU-Richtlinie haben in den letzten fünf Jahre gerade mal 20 von ihnen durchlaufen. Für die Hälfte empfahlen die Prüfer regulierende Maßnahmen – keine einzige davon ist bisher beschlossen. Geht es in diesem Tempo weiter, rechnete Winter vor, werden die 4.000 Fälle im Jahr 3000 abgearbeitet sein.

Denn die Risikoabschätzung ist ein aufwendiges Verfahren, wie Jan Ahlers, Wissenschaftlicher Direktor am Umweltbundesamt, darlegte. Zunächst muß die Industrie Informationen über einen Stoff vorlegen. Dann gilt es, dessen Konzentration in der Umwelt zu ermitteln. Da nur selten Meßdaten vorliegen, wird gerechnet und geschätzt: Welche Quellen gibt es, welche Wege nimmt die Substanz? Außerdem wird kalkuliert, bei welcher Konzentration voraussichtlich keine negativen Effekte auftreten – die „Predicted No-Effect Concentration“ (PNEC).

Aus der getroffenen Risikoabschätzung können sich – bisher nur theoretisch – Maßnahmen zum Risikomanagement ableiten, etwa die Beschränkung auf bestimmte Einsatzbereiche. Dem muß aber noch die ausführliche Erörterung ökonomischer und ökologischer Vor- und Nachteile vorausgehen,

So eine Prozedur dauert Jahre, zumal die Industrie – wie Ahlers formulierte – Informationen nur „Tröpfchen für Tröpfchen“ liefere. „Wer nicht testet, vermeidet alle Schwierigkeiten bei der Erklärung problematischer Testergebnisse“, so Vibeke Bernson. Bisher gilt: keine Daten – keine Regulierung, bemerkte der Greenpeace Chemie-Experte Manfred Krautter. Die Umweltorganisation möchte den Spieß umdrehen: keine Daten – keine Vermarktung. Wie das funktionieren könnte, hat Greenpeace im Februar dieses Jahres in einem Papier zur EU-Chemiepolitik dargelegt. Statt des zeitraubenden Assessment-Verfahrens und detaillierter Kausalitätsnachweise sollten Chemikalien aufgrund ihrer wesentlichen Eigenschaften beurteilt werden – also beispielsweise danach, ob sie Krebs auslösen oder die Fortpflanzung von Organismen beeinträchtigen. Der vorgeschlagene Zeitplan: Innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der neuen Regelung müßte die Industrie die jährliche Gesamtproduktion und 90 Prozent der Verwendungszwecke der jeweiligen Substanz offenlegen. Innerhalb von drei Jahren wären für Stoffe mit einem Produktionsvolumen von mehr als 1.000 Tonnen pro Jahr mögliche Gefahren zu identifizieren und zu überprüfen, für alle übrigen Substanzen innerhalb von fünf Jahren. Wer bis dahin keine Daten vorlegt, dürfte seine Produkte in der EU nicht mehr verkaufen. Sofortige Beschränkungen, so Krautter, müßten vor allem für Chemikalien mit hohem Produktionsvolumen erlassen werden, die lange in der Umwelt verbleiben. Zulassungen wären stets für einen begrenzten Zeitraum und definierte Anwendungen zu erteilen. Ziel sei schließlich, die Konzentration aller gefährlichen synthetischen Stoffe in der Umwelt auf null zu reduzieren.

Die Chemieindustrie, in Bielefeld unter anderem vertreten durch Jean Marie Devos, Generalsekretär des European Chemical Industrial Council, hält solche Maßnahmen für inakzeptabel. Aus der schleppenden Bearbeitung des Altchemikalienproblems in Brüssel folgt für ihn: Man müsse verstärkt auf Selbstverpflichtungen der Industrie setzen, alle andere sei zu wenig pragmatisch.

Die schwedische Regierung sieht es anders: Vor wenigen Tagen verabschiedete das schwedische Parlament ein neues Umweltgesetz, das wesentliche Vorschläge der Umweltschützer aufgreift. Statt endloser Einzelfallprüfungen sollen künftig Gruppen von ähnlichen Chemikalien beurteilt werden. Entscheidend für die Marktzulassung sind Eigenschaften wie Stabilität und Anreicherung in der Umwelt. Als erstes Land der Welt setzt Schweden das 1998 im Übereinkommen zum Schutze der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (Ospar) beschlossene Ziel in praktische Politik um: In 25 Jahren sollen keine gefährlichen Substanzen mehr in die Umwelt entlassen werden.

Wie weit die EU insgesamt noch von solchen Schritten entfernt ist, zeigt das anhaltende Gezerre um Weichmacher in PVC-Spielzeug. Sogenannte Phtalate machen nicht nur Gummitiere anschmiegsam, sondern lösen sich auch bestens im Speichel, wenn die lieben Kleinen darauf herumkauen. In Tierexperimenten verursachen Phtalate Leber- und Nierenschäden. Die EU- Generaldirektion XXIV, zuständig für Verbraucherpolitik und Gesundheitsschutz, plädierte im vergangenen Jahr dafür, Spielzeuge, die Weichmacher enthalten, vom Markt zu nehmen. Eine solche Ad-hoc-Regelung wäre allerdings nur jeweils drei Monate gültig. Die Generaldirektion III (Industrie) schlug dagegen eine vom EU-Parlament zu verabschiedende Regulierung vor. So etwas dauert mindestens zwei Jahre. Außerdem, so Axel Singhofen, Giftstoff-Experte von Greenpeace in Brüssel, sollte die Bestimmung nur sechs Phtalate betreffen – hauptsächlich solche, die gar nicht in Spielzeug verwendet werden. Für den häufigsten Weichmacher Di- Iso-Nonylphtlalat (DINP) sollte erst mal ein Test entwickelt werden. Fortan ruhten die EU-Aktivitäten, man wartete auf den Test. Während zwanzig Freiwillige fleißig auf Weich-PVC kauten, in Reagenzgläser spuckten und die Chemiker ihre Maschinerie anwarfen, entschlossen sich einzelne Staaten zu Alleingängen. Österreich, Dänemark, Schweden und Griechenland kündigten Verbote an. Drei Monate nach einer solchen „Notifizierung“ wird eine nationale Regelung wirksam – vorausgesetzt, kein Mitgliedsstaat widerspricht. Prompt trat das deutsche Wirtschaftsministerium gegen die Phtalat-Verbote auf. Entsprechende Stellungnahmen wurden selbst noch im Herbst 1998, also nach dem Regierungswechsel, eingereicht. Der Effekt: Fristverlängerung um ein weiteres Vierteljahr – auch 1998 lag noch phtalathaltiges Spielzeug unterm Tannenbaum. Inzwischen allerdings will auch das deutsche Gesundheitsministerium die suspekten Beimengungen aus Beißring und Quietscheentchen verbannen. Eine entsprechende Notifizierung wird derzeit vorbereitet.

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