: Versteinerte Herzen werden ganz weich
In Ingelheim besuchte Bill Clinton, der angeblich mächtigste Mann der Welt, auch eine Einrichtung für Kosovo-Flüchtlinge. Und zeigte sich berührt, betroffen. Frauen zücken ihre Taschentücher, und Gerhard Schröder steht daneben ■ Aus Ingelheim Markus Franz
Bundeskanzler Schröder, Verteidigungsminister Scharping, Ministerpräsident Beck, Innenminister Schily stehen in Reih und Glied auf einer Bordsteinkante in der Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende in Ingelheim, Rheinland-Pfalz. Sie haben die Arme vor der Brust verschränkt, denn es ist kalt an diesem Tag, kalt für Leute in Anzügen, die auf der Bordsteinkante in Ingelheim stehen und auf den angeblich mächtigsten Mann der Welt warten, Bill Clinton.
Auf einmal kommt Leben in den Bundeskanzler. Er fährt das amerikanische Sicherheitspersonal an, das schon die Journalisten mit ihren Gängeleien geärgert hat. „Jetzt reicht's“, und noch einmal: „Jetzt reicht's!“ Schröder ist eben Schröder. Selbst im Krieg, in einer Einrichtung für 340 Kosovo-Albaner, in Ingelheim, auf der Bordsteinkante. Dann kommt Clinton.
Schnell steigt der Präsdient aus, schnell geben sich die Protagonisten die Hand, schnell gehen sie in die Unterkünfte, wo sie auf vorher ausgesuchte Kosovaren treffen. Von einer sechsköpfigen Familie, Vater, Mutter, Oma, drei Kinder, hören sie Sätze wie diese: „Die Hoffnung auf Freiheit wird immer größer. Wir glauben an die amerikanische und deutsche Demokratie.“ Der Vater spricht von den „Friedensaktivitäten der Nato“.
Clinton wird später in einer Rede, an die Kosovo-Albaner gerichtet, sagen: „Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie uns von Ihrer herzzerreißenden Lebensgeschichte, den Alpträumen, der Ungewißheit, der Grausamkeit berichtet haben. Sie haben damit der Welt Ihre Geschichte vorgetragen.“
Sind diese Geschichten eine Begründung für die Fortführung des Krieges? Clinton und Schröder lassen sich berichten, daß die Frauen ihre Kinder nicht im Krankenhaus gebären wollen, weil die Serben die männlichen Babys sofort töten. Daß Frauen in Hallen zusammengetrieben und vergewaltigt werden. Daß serbische Soldaten Männern die Beine abschneiden. Die Frauen zücken ihre Taschentücher.
Der amerikanische Präsident wirkt tief berührt. Vor den Kameras dreier amerikanischer Fernsehgesellschaften, deutsche sind nicht dabei, rauft er sich die Haare, knetet die Finger, reibt sich bei besonders schlimmen Schilderungen die Augen und drückt am Ende des Gesprächs eine Frau an seine Brust. Ist Clinton Clinton? Ist er tatsächlich emotionaler und betroffener als Schröder oder einfach nur professioneller? Als eine Frau neben ihm ihr Baby stillt, rückt er dezent nach vorne.
Clinton führt das Gespräch. Er fragt bei den Schilderungen von Greueltaten genau nach, will wissen, seit wann der Haß zwischen Serben und Kosovaren besteht, tröstet mit Sätzen wie: „Wir geben unser Bestes, damit ihr bald wieder heim kommt.“ Einmal nickt er Schröder zu, der zurückgelehnt und mit übereinandergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhl sitzt, gibt ihm ein Zeichen, seinerseits Fragen zu stellen.
Schröder stellt zwei Fragen: Wie ist die Situation in den Flüchtlingslagern, und wie fühlen Sie sich in Deutschland? An Dankbarkeitsbekundungen sparen die Kosovaren nicht. Besonders freudig guckt Clinton, wenn sie Sätze sagen wie „Wir fühlten uns sicherer, als die ersten Bomben fielen“ und: „Befreien Sie uns von diesen Henkern.“
Bei den anschließenden Reden wirkt Clinton unverändert betroffen. Aber er packt die Flüchtlinge aus dem Kosovo, die ihm begeistert applaudieren – ganz anders als dem deutschen Bundeskanzler. Schröder, lässig und munter, sagt, daß er „stolz darauf ist, daß die Deutschen so hilfsbereit sind“, sagt, daß er verstanden habe, daß die Kosovaren die „Sehnsucht haben, frei und sicher in ihrer Heimat zu leben“, und es klingt wie eine Drohung, als er anfügt, „bis dahin“ seien sie in Deutschland willkommen.
Clinton redet von „realen Menschen, Familien, Träumen, die zerstört werden, herzzerreißenden Schicksalen“, und während er spricht, wird Schröders Gesicht ernster. Clintons Zuhörer dürfen sich angesprochen fühlen, selbst wenn er Propaganda macht. „Man hat Sie nicht im Stich gelassen“, sagt er, und: „Man hat es nicht geschafft, Ihre Existenz zu vernichten.“
Aber hat das nicht gleichzeitig etwas Tröstliches? Zum Schluß bittet Clinton die Kosovaren, trotz ihres „schrecklichen Schicksals“ nicht „für den Rest Ihres Lebens zornig zu bleiben“. Mit Hinweis auf seine irische Abstammung zitiert er den Dichter G. B. Shaw: „Ein Opfer, das zu lange währt, kann dazu führen, daß das Herz versteinert.“ Da stehen die Zuhörer auf und applaudieren herzlich. Schröder ist nicht mehr zu sehen.
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