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Die linken Traditionen Amerikas

In seinem neuen Buch arbeitet der amerikanische Soziologe Richard Rorty an der Idee einer Verbesserung der Vereinigten Staaten von Amerika. Anders, als der Titel „Stolz auf unser Land“ suggeriert, plädiert sein Essay jedoch nicht für einen linken Nationalismus. Statt dessen kritisiert es die Neue Linke der Achtundsechzigergeneration, die es sträflich versäumt habe, reformerische und politisch durchsetzungsfähige Bündnisse mit der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Traditionslinken zu schmieen. Eine Rezension  ■ von Andrei S. Markovits

Schade, daß der deutsche Titel des neuen Buches von Richard Rorty so irreführend und inhaltsverfälschend ist, besonders in einer Zeit, in der mit rechtslastiger Volkstumsideologie gespickte nationalbolschewistische Ideen à la Langhans-Lauermann-Mahler-Maschke-Oberlercher-Rabehl sich gerade bei Teilen der Achtundsechziger einiger Konjunktur erfreuen. Der Titel der Originalausgabe heißt nämlich Achieving Our Country: Leftist Thougt in Twentieth-Century America – also nichts von Patriotismus, kein Wort von Stolz.

Daß die richtige Übersetzung des Titels, „Verwirklichung“ oder „Vervollkommnung unseres Landes: Linkes Denken im Amerika des 20. Jahrhunderts“, den inhaltlichen Ausführungen und den normativen Wünschen Richard Rortys viel näher gekommen wäre, muß dem Übersetzer, Hermann Vetter, klar sein, da seine Übersetzung, von kleineren Schnitzern abgesehen, hervorragend ist.

Rorty geht es weder um einen herkömmlichen Patriotismus noch um irgendeinen Nationalismus. Vielmehr verrät er schon die Essenz seines Plädoyers in seiner Widmung dieses Buches, welches aus den 1997 an der Harvard-Universität gehaltenen Massey Lectures entstand: Irving Howe und A. Philip Randolph, die Rorty, wie er bedeutungsvoll verrät, „nur flüchtig“ kannte.

Howe, eine der überragenden Figuren der New Yorker jüdischen Intelligenz, und Randolph, schwarzer Gewerkschaftsführer und aktives Mitglied der Bürgerrechtsbewegung, verband über viele Jahre eine enge Freundschaft. Eine, die auf den Idealen und Praktiken einer universalistischen, arbeitnehmerorientierten, gewerkschaftsfördernden, egalitären, pragmatischen, säkularen, progressiven, reformistischen, antikommunistischen Sozialdemokratie gründete. Werte, die auch Rortys Ideale waren, deren Verschwinden er durch die Angriffe der neuen Linken in dem vorliegenden Buch beklagt und für deren Wiederbelebung er in diesem Buch leidenschaftlich plädiert.

Fürwahr: In der heutigen, von einer politics of identity dominierten linken Szene gibt es anstelle der ehedem regelmäßigen Sympathiebekundungen jüdischer und schwarzer Intellektueller bestenfalls eine beidseitig mit Argwohn begleitete Distanz, leider aber auch offene Antipathie und Feindschaft.

Rortys Plädoyer, in drei Kapitel unterteilt, verfolgt zwei Stränge. Im ersten beschreibt er die Welt eines progressiven Reformismus, deren Raison d'être es war, die wahren Ideale der Vereinigten Staaten von Amerika – politische Freiheit, ökonomische Gerechtigkeit, soziale Gleichheit – durchzusetzen. Stellvertretend für die philosophischen Grundlagen dieser Gesinnung bespricht Rorty mit souveräner Eloquenz und offensichtlicher Sympathie die Schriften und Gedanken Walt Whitmans und John Deweys, deren jeweiliges Lebenswerk im Zeichen einer immerwährenden emanzipatorischen Erweiterung amerikanischer Realität stand.

Zusammen mit William James, Herbert Croly und zahlreichen anderen von Rorty erwähnten fortschrittlichen Denkern gelang es diesen, eine Synthese mit politisch aktiven Menschen wie dem Arbeiterführer Eugene Debs einzugehen, die dann die Grundlage für eine progressive Politik in den USA von der Jahrhundertwende bis in die frühen sechziger Jahre bildete. Rorty, für den Handeln eine zwingende Voraussetzung jeglicher progressiver Politik ist, führt alle großen politischen und wirtschaftlichen Reformen der USA in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts – einschließlich des New Deals – auf den humanistisch-egalitären Pragmatismus dieses Milieus zurück.

Entscheidend für die Erfolge dieser politischen und intellektuellen Synthese war Rorty zufolge auch ihre zweifellose Verankerung innerhalb der Paradigmen amerikanischer Werte. Diese Politik und ihre Vertreter wollten die USA weder verneinen noch zerstören; sie schämten sich ihrer nicht, noch waren sie jemals mit den gegebenen Verhältnissen – sogar nach ihren eigenen Siegen – auch für einen Moment zufrieden. Als progressive Linke verstanden sie die Verwirklichung Amerikas als ihre Lebensaufgabe. Und dann kam die große Zäsur der sechziger Jahre, die dieser Linken in Amerika den Garaus machte.

Den zweiten Teil seines Buches widmet der Autor der neuen Linken. Obwohl Rorty dieser Formierung wenig Sympathien entgegenbringt, räumt er ihr unumwunden ein, Gruppen angesprochen zu haben, die von der traditionellen Linken ausschließlich weißer Männer völlig vernachlässigt wurden: Homosexuelle, Schwarze, Latinos, Behinderte, die von Weißen beinahe gänzlich vernichtete Urbevölkerung des Kontinents (in Deutschland fälschlich immer noch „Indianer“ genannt) und natürlich die Frauen.

Während Rorty dieses befreiende Element der neuen Linken kaum höher preisen könnte, sieht er in ihrem Defätismus und in ihrer völligen Ablehnung Amerikas nicht nur ein normatives Problem, sondern vor allem ein politisches. Denn eine komplette Negierung Amerikas führt zu einem Fehlen einer Gemeinsamkeit, die eine einende Politik außerhalb und zwischen den jeweiligen Gruppen zuließe. Anderssein avanciert vom Mittel zum Zweck; und da Koalitionen unmöglich sind und in einem verruchten „System“ sowieso nichts einbringen, kann man gleich in den Ghettos von „identity politics“ als immerwährende Opfer tatenlos verharren.

Anstatt reformistisch zu handeln, wird revolutionärer zu- beziehungsweise weggeschaut. Statt konkrete politische Schritte für Gewerkschaften, Parlamente, Parteien zu entwerfen und sie zu realisieren zu suchen, werden obskure dekonstruktivistische Artikel über „Macht“, „Identität“, „System“, „Diskurs“ veröffentlicht, deren Relevanz für Opfer jeglicher Art von zweifelhaftem Wert ist. Diese „kulturelle Linke“ – so Rorty – findet sich auch in den geistes- und literaturwissenschaftlichen Instituten der US-Universitäten. Und zwar im Gegensatz zu der früheren „politischen Linken“, die, sich mit konkreten Problemen der politischen Ökonomie und Soziologie beschäftigend, in den Sozialwissenschaften beheimatet war.

Während alle progressiven Kräfte im Amerika der neuen Linken zum ewigen Dank ob ihrer erfolgreichen Opposition gegen den Vietnamkrieg verpflichtet sind, bleibt ihr Vermächtnis des Zynismus und der Ablehnung jeglicher Reformmöglichkeiten innerhalb der Vereinigten Staaten ein politisches Manko, welches, so Rorty, effektive progressive Politik in den USA im Konkreten unmöglich macht.

Natürlich hat diese „kulturelle Linke“ auch gegenwärtig Erfolge zu verzeichnen, wie zum Beispiel den völlig veränderten Inhalt und Ton, der im öffentlichen Diskurs zwischen den Geschlechtern und den Ethnien salonfähig wurde. Daß weiße Männer heute in den Vereinigten Staaten nicht mehr so abschätzig über Frauen und Minoritäten reden, wie sie es noch zu den Zeiten der alten Linken anstandslos tun konnten, ist ein beachtlicher Erfolg, den sich die Linke durch die rechtskonservative Offensive der political correctness nicht nehmen lassen soll.

Trotz dieser wichtigen Konzessionen an die gegenwärtig in den USA dominierende kulturelle Linke meint Rorty im Abschluß seines Buches, daß nur durch eine Symbiose der zwei linken Traditionen Amerika als Land, als Idee und als Ideal verwirklicht werden kann. Als ein Produkt der in der Opposition zum Vietnamkrieg entstandenen neuen Linken, der aber seine Sympathien und Hoffnungen für die alte Linke der Deweyes, Whitmans, Howes und Randolphs nie aufgegeben hat, wünsche ich mir sehr, daß Rorty recht hat.

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