: Hören bis zum Knie
Seit Ende der sechziger Jahre forscht Bernhard Leitner nach dem Zusammenwirken von Klang, Raum und Körper. In Berlin sind einige seiner Ton-Räume noch bis Mitte Juli im Hamburger Bahnhof zu sehen ■ Von Harald Fricke
Als der Bau 1968 fertig war, brauchte Mies van der Rohe sich bloß noch in die Mitte der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu stellen und mit den Fingern zu schnippen. Dann stieg das Klakken bis an die Decke, hinüber zu den verglasten Wänden und verhallte gleichmäßig im Obergeschoß des Museums. So hört sich ein ideal konstruierter Raum an.
31 Jahre später: Der Hamburger Bahnhof brummt und dröhnt, als wäre die elektronische Überwachung außer Kontrolle geraten. Im linken Seitenflügel schwappen schwere Bässe durcheinander, breiten sich bis zur Schulter aus und sind fürs Ohr nicht mehr zu entwirren. Von sechs an der Decke hängenden Stahlplatten mit Lautsprechern über schwarze Boxen an einem Marmorblock bis zu weißen Säulen in Art einer Skateboardrampe wabert der Sound hin und her; selbst die Liege im hintersten Raum macht Geräusche.
Ein wenig besorgt fragt einer der Museumswärter bei Bernhard Leitner nach, ob man den Klang, der da aus allen Ecken zurückhallt, nicht besser dämmen könnte, wenn er den Fußboden mit Filzplatten auslegen würde. Leitner hört den Vorschlägen geduldig zu, bevor er antwortet: „Nein, das funktioniert nicht, weil sich die Bässe überall hin ausbreiten, durch Wände ebenso wie auf dem Boden.“ Der Wiener Künstler kennt das Problem. Der Hamburger Bahnhof ist für solche akustischen Experimente ganz einfach ungeeignet. Trotzdem kann Leitner noch mit dem Aufbau seiner Arbeiten zufrieden sein, die Wulf Herzogenrath neben Klangskulpturen von Christina Kubisch Anfang der neunziger Jahre für die Berliner Sammlung angekauft hat: „Zum Glück mußte ich die Installationen nicht im ersten Stock anbringen. Dort gibt es nur Holzfußböden, da hätte man ja gar nichts mehr gehört.“
Der 1938 im österreichischen Feldberg geborene Leitner konzipiert Räume und Objekte, um damit Klang zu erforschen. Die Gebilde sehen wie Minimal-art-Skulpturen aus, und wenn man sie lange genug anstarrt, könnte man sich auch an den psychedelischen Quader erinnert fühlen, der in Stanley Kubricks „2001“ durchs Weltall schwebt. Nun hält Leitner zwar nicht allzuviel von Vergleichen und bezeichnet seine Werke lieber nüchtern als „Ton-Raum-Arbeiten“, mit denen er mißt, wie sich Sounds auswirken. Abwegig ist die Vorstellung vom rätselhaften Science-fiction-Rechteck aber nicht. Immerhin paßt der monolithische Block, den kein Forscherwissen knacken kann, gut ins Bild von den Ungereimtheiten in Sachen Schall, Technik und Erfahrung. Die Grenze ist irgendwo da draußen – oder hinter den Ohren.
Tatsächlich gehen Leitners Erkundungen zu Klang und Raum bis in die Zeit von Kubrick, Mondlandung und „Space Odyssey“ zurück. Nach dem Architekturstudium siedelte er 1968 von Österreich in die USA über, um Stadtplanung an der New York University zu unterrichten. Anders als im Wien der Realismus-Maler und Aktionisten war sein Umfeld hier durch die Konzeptkunst der späten sechziger Jahre geprägt, von Bruce Naumans seltsam hospitalistischen Video-Wanderungen im Studio bis hin zu Dan Grahams Untersuchungen über die Soziologie urbaner Räume. Leitner zog sich ins Atelier zurück und recherchierte in beide Richtungen. Das ästhetische Feld blieb bei seinen Studien allerdings unsichtbar: Wie läßt sich die eigene physische Anwesenheit durch Klang bestimmen? Wo findet Klang überhaupt statt – im Ohr, im Raum oder im Körper?
Leitner begann zu basteln: Mehrere Lautsprecher wurden in Reihen angeordnet, um beim Vorbeigehen die akustischen Verschiebungen wahrnehmen zu können; im nächsten Schritt probierte der Klangforscher die Wirkung unterschiedlicher Frequenzen auf den Körper aus – wie hört man hohe Töne, wo hört man tief? Schließlich installierte er „Ton-Röhren“ mit bis zu 40 Boxen, die an quer durch den Raum verstrebten Leisten je nach Standort mehr oder weniger starke Klänge in den Körper eindringen ließen. Jeder Versuch wurde bis ins Detail genau dokumentiert – Leitner hatte seine Idee mit allem Ernst der Wissenschaft betrieben. In einer Aufzeichnung von 1975 heißt es dann: „Der enge Vertikal-Raum steigt durch den Brustkorb auf. Ton senkt sich durch den Oberkörper wieder zu Boden. Hören mit Rükken und Brust.“ Dazu sieht man Leitner entspannt auf einem Foto zwischen zwei Lautsprechern auf einem kargen Holzbrett liegen.
Dennoch ging es bei den Übungen weder um Meditation noch um Selbsterfahrung. Vielmehr waren die Soundexperimente „empirisch-künstlerische Untersuchungen in einer Art Laboratoriumssituation“, so Leitner in einem Interview, das vor kurzem in seiner großzügig bebilderten Werkbiografie „Sound: Space“ im cantz Verlag erschienen ist. Dort kann man auch nachlesen, wie der Architekt zur Kunst kam – unter anderem durch seine Beschäftigung mit Ludwig Wittgenstein.
Zunächst gab es dafür ganz praktische Gründe: Das US-Kunstmagazin artforum hatte Leitner 1969 gebeten, einen Artikel über das Wittgenstein-Haus zu schreiben, das der Philosoph selbst entworfen hatte. Aus dem Text wurde eine Initiative zur Rettung des Gebäudes, das von der Gemeinde Wien 1971 abgerissen werden sollte, um Platz für einen Hotelturm zu machen: „Ich schrieb Protestartikel gegen das Denkmalamt, sprach mit Politikern, informierte viele Kollegen – und es gelang mir, mit in- und ausländischer Hilfe, das Wittgenstein-Haus in allerletzter Minute zu retten, obwohl die Abbruchgenehmigung schon erteilt war.“ Mittlerweile arbeitet Leitner am zweiten Buch über den Fall – ohne sich für dessen architektonische Besonderheiten zu begeistern. Eher schon geht es ihm ums „Gedankengebäude“, das sich im Haus von Wittgenstein verbirgt.
Aber auch der Kontakt mit artforum hatte Folgen. 1971 erschien in der gleichen Zeitschrift Leitners Analyse über „Sound Architecture – space created through traveling sound“. Die Verzahnung von Körper, Klang und Raum liest sich eher wie ein Mathematikbuch, auch wenn am Ende von akustisch gestalteten „Soundplazas“ die Rede ist, auf denen man relaxen oder seinen Geschäften nachgehen kann. Heute würde Leitner damit als Vorreiter von Ambient-, Lounge- oder Chillout-Zonen gelten, in denen DJs Soundscapes gestalten. Doch mit all der Club-Kunst und Crossover-Kultur kann er nichts anfangen: Bei Ambient stehen ihm Musik und Melodie als selbstverliebte Tonprojektionen viel zu sehr im Vordergrund, und an den jugendlichen Bastelzimmern der Technobewegung stört ihn „das existentielle Pathos der jüngeren Generation, die mit ihrer Person ganz in die Kunst hineingeht“. Sein Konzept ist dagegen an die totale Abstraktion gebunden – Zahlen, Daten, Materialkunde. Außerdem hat er bei der Anfertigung seiner „Ton-Raum-Arbeiten“ schon genügend Probleme mit der Akustik. Immerhin gibt es „50 Arten, eine Posaune zu blasen“, und die wollen alle erst einmal berechnet werden.
Weil Leitner „nie mit einer Galerie zu tun hatte“, konnte er erst ab 1980, mit dem Boom von Klang- und Medienkunst, ausstellen. Schließlich wurde er 1982 zur documenta VII eingeladen. Es ergab ein merkwürdiges Bild: Zwischen lauter Malerei der Neuen Wilden stand Leitners „Ton-Würfel“, ein mit weißem Gazetuch verhängter Kubus, in dem die Besucher auf einer Liege rundumbeschallt wurden. Der solchermaßen dezent abgeschirmte Raum hatte im sonstigen Allover aus Punk und Acrylfarben etwas von Sanatorium oder Esoterikzelle. Doch im Grunde war es Leitner mit der Inszenierung nur darum gegangen, den üblichen Widrigkeiten einer Massenveranstaltung entgegenzuwirken, „damit die Leute keine Hemmungen haben, wenn sie sich mitten im Museum für ein Kunstwerk hinlegen“. Noch heute gehört das Zusammenspiel mit dem Publikum – Stichwort: Interaktivität! – zur Arbeit von Leitner. Auch im Hamburger Bahnhof soll man auf Holzbänke steigen, seinen Kopf gegen ein Stück Marmor pressen und auf der „Ton-Liege“ zuhören, wie die Sounds durch den eigenen Körper pendeln. Das alles ist inzwischen nach komplexen Arrangements am Computer programmiert – und funktioniert dennoch wie zu Zeiten der ersten Versuche im New Yorker Atelier. Überhaupt ist Leitner ein Forscher, der in seinen Arbeiten keine Endprodukte sieht, sondern stets neue akustische „Situationen“ ausprobiert. So hat er 1992 auf dem Vorplatz des Wiener IBM-Gebäudes ein Feld aus Stelen errichtet, von deren unterem Teil aus der Lärm der anliegenden Straßen mit einer Niederfrequenz absorbiert wird. Und für die Musiktage in Donaueschingen wurde vor zwei Jahren eine Klangkuppel in einem kleinen Tempel am Fluß eingerichtet, die das Geräusch des vorbeifließenden Wassers auf Kopfhöhe transportiert.
Selbst an der Gestaltung der neuen Friedrichstraße war Leitner beteiligt. Seine Installation „Raumquellen“ ziert nun das Atrium eines der Dienstleistungscenter und verstärkt dort das Plätschern eines Brunnens zu sonorem Rauschen. Die äußerst edle mattblaue Gestaltung ist durchaus als Konzession an die gängigen Kriterien für Kunst am Bau gemeint, dahinter steckt aber noch eine andere Absicht: Auch ein Ohr möchte durchs Auge eingestimmt werden.Ohne die klangliche Dichte wiederum würde alles Design als leere Form nutzlos im Raum stehen – taub für die Ohren, vom „Dialog mit der Halle“ keine Spur. Erst recht nicht beim Betrachter. Noch hält sich der Künstler jedenfalls streng an seine Vorgaben, wenn er „Hör-Gestalten“ baut und einen Großteil neuer Klanginstallationen als dekorative Elektronikspielerei ablehnt. Eine ähnliche Gefahr sieht er etwa bei Videos von Bill Viola, der mit der Verfeinerung seiner Ideen „zu sehr in der Metaphysik hängengeblieben ist“.
Mitunter braucht man den Kopf für Leitners Objekte gar nicht zu benutzen. Zum „Ton-Feld“ von 1995 gibt es die Anmerkung „Hören bis zum Knie“. Im Hamburger Bahnhof wird es dagegen schon ab Mitte Juli wieder sehr still, wenn die „Deutschland“-Retrospektive bilderreich in Szene gesetzt wird. Dann wandern Leitners Arbeiten zurück ins Depot. Bis 11. 7.: Hamburger Bahnhof, Berlin. 11. 7. bis 26. 9.: Akademie der Künste, Berlin. Bernhard Leitner: „Sound: Space“ ist im cantz Verlag erschienen, 320 Seiten, 98 DM
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