piwik no script img

Der prasselnde Galopp der Apokalypse

Nach einer langen Friedensperiode in Europa mehren sich wieder die Zeichen für Kriegsbegeisterung. Eine Warnung  ■   von Claudio Magris

Im November 1989 war ich in im französischen Blois anläßlich

einer Zusammenkunft von Schriftstellern und Politikern aus Osteuropa, die von Jack Lang, dem damaligen Kulturminister, organisiert wurde. Während man bei dem Treffen der Arbeit nachging, begannen in Ost-Berlin die Demonstrationen, die wenig später das Regime der DDR und der anderen kommunistischen Staaten stürzen sollten.

Aus Ost-Berlin kam ein Intellektueller, der aktiv an den großen Kundgebungen beteiligt war, um sofort nach seiner Rede wieder abzureisen. Bewegt sprach er davon, was in seiner Stadt und in seinem Land passierte, er sagte, daß es unvorhersehbar sei, wie sich die Situation entwickeln würde, und daß alles geschehen könne, doch eines leider gewiß sei, nämlich, daß die Mauer noch viele Jahre bleiben würde. Zwei Tage später gab es die Mauer nicht mehr, doch noch nicht einmal jener Mann, der eine nicht unbedeutende Rolle bei ihrer Zerstörung spielte, hatte sich dies vorstellen können.

Natürlich haben alle – haben wir alle – seine Gewißheit geteilt. Diese Episode fällt mir oft als offenkundiges Beispiel für unsere Armut an Phantasie ein, für die menschliche Unfähigkeit, sich vorzustellen, daß die Realität, in der man lebt, sich radikal ändern kann – zum Besseren oder zum Schlechteren. Die sogenannten Realisten – und alle bilden sich ein, es zu sein, besonders die Politiker und die politischen Kommentatoren – verwechseln die gegenwärtige Wirklichkeit mit der einzig möglichen und halten sie, bewußt oder nicht, für unveränderlich; große nichtsnutzige Machiavellis, davon überzeugt, die einzig klare Sicht der Dinge zu haben, hätten sie diejenigen als naiv und armselig betrachtet, die im Sommer 1989 geäußert hätten, daß die Berliner Mauer bald fallen könnte.

Man ist blind, besonders gegenüber den Vorzeichen der Katastrophe, taub gegenüber dem Knirschen und Getöse, mit dem sich ein Erdbeben ankündigt.

Bis zu einem gewissen Punkt ist diese Stumpfsinnigkeit nützlich, hilft sie doch zu leben, ohne an die Tücken und Gefahren zu denken, die allmorgendlich jeden von uns alles andere als sicher sein lassen, den Abend auch zu erreichen. Zu viel an den Tod und an seine Bedrohung zu denken, ist nicht allzu gesund. Übertriebene Angst, an Vergiftung zu sterben, kann dazu führen, daß man zu lange fastet und schließlich daran stirbt.

Jedoch kann es tödlich sein, die Gefahren zu ignorieren, und einen dazu verleiten, jeglichen Schutz abzustreifen und unbekümmert auf das Desaster zuzusteuern wie derjenige, der in der Kurve überholt, weil er nicht wirklich glauben kann, daß ein tödlicher Zusammenprall ausgerechnet ihm passieren könne.

Eine der Katastrophen, die man solange nicht vorhersehen kann oder will, bis sie eingetroffen sind, ist der Krieg. Bis auf wenige Hitzköpfe will ihn niemand, aber viele halten sich für fähig, mit seiner Möglichkeit zu spielen, indem sie ihn unter Kontrolle halten, ihn anzufachen in der Gewißheit, ihn rechtzeitig stoppen zu können.

Arrigo Levi [italienischer Philosoph und Intellektueller, Anm. d. Red.] erinnerte kürzlich daran, wie zu Beginn des Jahrhunderts Churchill, der ja nicht der Dümmste war, überzeugt davon war, als er Militär war, sich einem überholten Beruf zu widmen in Zeiten, die keine Kriege mehr kennen – und das wenige Jahre vor dem ungeheuren Massaker von 1914 bis 1918. Filme aus jener Zeit zeigen uns europäische Herrscher und Regierende am unmittelbaren Vorabend des Ersten Weltkrieges, überzeugt davon, daß die lange Friedensperiode nicht wirklich enden und irgendein lokales Scharmützel diesen Frieden nicht ernsthaft in Frage stellen könne.

Auch heute ist man überheblicherweise der festen Ansicht, daß Kriegsherde und begrenzte militärische Zusammenstöße einem nicht aus den Händen gleiten können, sondern immer unter Kontrolle seien. Diese vergnügte Annahme ist vielleicht ein Indiz dafür, daß eine lange Ära abgeschlossen ist oder gerade endet, in der die Welt – noch erinnert man konkret, körperlich das entsetzliche Gemetzel des Zweiten Weltkrieges – den Krieg fürchtete, weil man am eigenen Leibe erfahren hatte, was er bedeutet, weil man Sinnesfühler besaß, um die Signale seines Herannahens zu empfangen, und man unternahm jede Anstrengung, ihn zu vermeiden, selbst in Momenten höchster Spannung zwischen Ost und West.

Bisweilen gewinnt man den Eindruck, daß die sensible Wahrnehmung der Kriegsgefahr heutzutage abgeschwächt ist und mit ihr die Sorge darum, diese Gefahr abzuwenden. Man beginnt, mit dem Feuer zu spielen, oft mit dem Gestus des Überlegenen. Der selbstgefällige Ton, mit dem einige politische Kommentatoren von Kriegsereignissen beruhigende und optimistische Erklärungen verkünden, erinnert an die komische Befriedigung, mit der in der Schmonzettenliteratur die betrogenen Ehemänner die starke Harmonie ihrer ehelichen Gemeinschaft lobpreisen.

Das zu Ende gehende Jahrhundert, so beobachtete es kürzlich der Botschafter Sergio Romano, ist mehr als durch die Totalitarismen durch die Weltkriege geprägt, die diese erst hervorbrachten, besonders durch den Ersten, dessen Fortsetzung im übrigen der Zweite war.

Der Weltkrieg, wie es 1914 Papst Benedetto XV. prophezeite, ist der Selbstmord Europas, welcher damit seiner Macht und Führungsrolle in der Welt ein Ende setzte. Der Zweite Weltkrieg hat über Jahrzehnte ein brennendes Gefühl für die Schrecklichkeit des Krieges hinterlassen, für seine Kraft zur Vernichtung und für seine Drohung, die immer präsent ist, auch dann, wenn es niemand erwartet.

In Dresden, das 1945 durch eine Bombardierung dem Erdboden gleichgemacht wurde, die nicht weniger Opfer als ein atomarer Schlag nach sich zog, ist bis heute nicht die Frauenkirche, die durch die Bomben zerstört wurde, rekonstruiert worden, jedoch beließ man ihre äußerst spärlichen Ruinen so, wie sie am Abend jenes schrecklichen Tages waren. Die Ruine der Kirche erhebt sich aus den durcheinanderliegenden Trümmern wie ein ausgenommener Körper oder ein Gesicht mit leeren Augenhöhlen. Vor diesem Monument, das durch Zerstörung geschaffen wurde, spürt man, daß die Bomben gestern gefallen sind und daß sie wieder von neuem fallen könnten; man hat den Schrecken des Krieges und des Wahnsinns vor Augen, der das gefordert hat.

Diese Trümmer und einsturzgefährdeten Reste sind ein Symbol dafür, wie das Gespenst des Krieges so viele Jahrzehnte lang gegenwärtig gewesen ist. Mehrere Zeichen scheinen darauf hinzuweisen, daß das Klima dabei ist, sich zu ändern.

Die Welt scheint im Begriff zu sein, den Schrecken des Krieges zu vergessen. Die Konflikte haben alle ihre ganz spezifischen Gründe, offensichtliche und versteckte, jedoch erscheinen sie auch als Symptom für eine Beunruhigung, die sich immer mehr ausbreitet, wie eine Entzündung, die von verschiedenen Seiten um sich greift. Die Kriege, die hier und dort entflammen und wieder verlöschen, erinnern an die umfassende Pathologie eines Körpers, der beginnt, stufenweise zu regredieren; mehrere Organe gehen abwechselnd kaputt und werden nach und nach geflickt, doch wenn ein Magengeschwür tamponiert wird, versagt die Niere, und wenn diese wiederum in Ordnung gebracht wird, ist es der Darm, der seine Funktion aufgibt: ein allgemeines Krankheitsbild eines umfassenden Verfalls.

Legt man ein Ohr an den Boden, wie die Indianer in den Western, vermeint man bisweilen – wenn auch von Ferne – den prasselnden Galopp der Reiter der Apokalypse zu vernehmen. Gewiß, die ganze Erziehung und ein soziales und kulturelles Klima haben dafür gesorgt, daß seit Jahrzehnten in unseren Ländern einige Generationen gegen den Krieg sind, gänzlich unvorbereitet darauf – auch aus Feigheit. Es gelingt ihnen noch nicht einmal, ihn sich vorzustellen.

Doch diese Gewissenlosigkeit und Leichtfertigkeit schwächen auch das Wahrnehmungsvermögen für die Risiken des Krieges und könnten dazu führen, daß wir uns alle im Hurricane wiederfinden, erschrocken und dumm, mit blödsinniger Miene, und wohl dem, der sich fragt, wie es möglich sei, daß bestimmte Dinge passieren.

Es geht nicht darum, einen übermäßigen, inakzeptablen Pazifismus zu predigen; manchmal – wie beispielsweise gegenüber dem Nazismus – ist es schmerzlicherweise notwendig, Krieg führen zu können, und bisweilen ist diese Entschlossenheit, die dem potentiellen Aggressor klarmacht, was ihn der Angriff kosten würde, der einzige Weg, den Krieg zu vermeiden. Sondern es geht darum, immer ein klares Bewußtsein der katastrophalen Möglichkeiten zu haben, die um die Ecke lauern.

Der Krieg in Serbien ist eine tragische und auffällige Episode eines Hochkochens, das riskiert, sich auszubreiten und woanders wieder von neuem zu beginnen, wenn dieser Konflikt beigelegt sein wird – wahrscheinlich ohne genaue Motive und mit Ergebnissen, die in keinem Verhältnis zur Tragödie stehen, die gerade stattfindet. Die Welt ist ein Pulverfaß: die Proliferation von Atomwaffen, die in unverantwortliche Hände gelangen; der zunehmende nationalistische Wahn, da jede Ethnie beansprucht, ein Staat zu werden und den Schwächsten, der nebenan lebt, zu unterdrücken, indem man unsinnige und falsche Stammbäume von rassischer Reinheit erfindet; ein blühendes Wirtschaftswachstum, das Arbeitsplätze reduziert und Massen von Arbeitslosen und soziale Spannungen fördert; die Migration von Millionen Enterbten, die aus den verschiedensten Teilen der Erde an die Grenzen der am höchsten entwickelten Länder drängen: ein Druck, der, wenn sehr viele darin verwickelt sind, mit dramatischen Gefahren einhergehen muß, egal, wie das Verhalten ihnen gegenüber auch sei – aufgeschlossen oder verschlossen.

Es erscheint uns unvorstellbar, daß eines Tages jemand den atomaren Knopf drücken könnte, doch die Grenzen unserer Vorstellungskraft sind nicht die der Realität.

Es wäre gut, sich immer das Skelett der Frauenkirche vor Augen zu führen. Es ist kein Zufall, daß man statt dessen gerade jetzt plant, die Kirche zu restaurieren und sie wieder so herzustellen, als ob sie niemals zerstört worden wäre. Vielleicht ist dies ein Zeichen für das gefährliche Bedürfnis, die Möglichkeit erneuter Zerstörungen zu ignorieren. Von dem italienischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Claudio Magris erschien zuletzt: „Die Welt en gros und en détail“ im Hanser Verlag Übersetzung aus dem Italienischen: Patricia Wolf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen