Nie einen modischen Schritt voraus

Berlin war bis Anfang der dreißiger Jahre ein Zentrum der internationalen Mode. Das Zauberwort: Konfektion, also Chic für die Masse. Nachkriegsdesigner wie Wolfgang Joop und Jil Sander verzichteten auf Fashion. Teil XVII der Serie „50 Jahre neues Deutschland“. Ein Essay von  ■ Anja Seliger

Was für ein Thema! Frankreich hat die Werk- und Brutstätten der Haute Couture, Italien die Stoffe und die Farben. Die Briten können auf ewig aus dem reichen Fundus an Männerkleidung schöpfen, den englische Schneider im 18. und 19. Jahrhundert schufen. Amerika hat seine Sportswear. Und was hat Deutschland? Konfektion – was förmlich nach billigen Kopien riecht. Wo man doch so gern erfinderisch wäre! Jil Sander ist die einzige deutsche Modedesignerin, die auch im Ausland einen klangvollen Namen hat. Ihre puristische Luxuskonfektion (Hose nicht unter achthundert Mark) ist immer auf der Höhe der Zeit – wenn auch nie einen Schritt weiter.

Dann gibt es natürlich noch Escada. Die Firma wurde in den achtziger Jahren groß mit Kopien von Chanelkostümen. Das ist heute, wo jeder Modedesigner ein Künstler sein soll, gar nicht gut angesehen. Daß Escada inzwischen Deutschlands drittgrößter Markenbekleidungskonzern ist(Umsatz 1997: anderthalb Milliarden Mark), hat dem Ruf in Deutschland sogar eher geschadet. Mit Einfallslosigkeit viel Geld verdienen: typisch wir.

Aber was ist eigentlich so schlecht daran? Sollen nur Bankiersgattinnen im gepaspelten Wollkostüm mit Goldknöpfen rumlaufen dürfen? Firmen wie Escada, Mondi, Steilmann oder Boss knüpfen an eine ruhmreiche Tradition, die aus Berlin stammt: gut verarbeitete modische Kleidung für die breite Masse. Mode für Millionen, nicht für Millionäre, wie Klaus Steilmann in den sechziger Jahren zu sagen pflegte. Die Geschichte der deutschen Konfektion ist die Geschichte eines revolutionären Konzepts.

Die Befreiung des Proleten von bürgerlichen Schweißflecken

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts trugen arme Leute die abgelegten Kleider der Reichen. Mit der Erfindung der Nähmaschine war es plötzlich möglich, Kleider so billig herzustellen, daß der dritte Stand nicht mehr die Schweißflecken der Bürger spazierenführen mußte. In dieser Zeit, zwischen 1850 und 1933, entstand in Berlin rund um den Hausvogteiplatz die deutsche Konfektion. Es waren vor allem jüdische Altkleiderhändler, die die Möglichkeiten der neuen Technik erkannten.

Saubere neue Kleidung war der erste Schritt. Der zweite war Mode für alle. Berliner Konfektionäre reisten nach Paris und kauften in den Couturehäusern Originalschnitte. Aus einem Coutureschnitt fertigten sie sechzig bis siebzig verschiedene Konfektionsmodelle. Das waren nicht einfach Kopien. Die schiere Menge der Abwandlungen ließ das nicht zu. Es entstand etwas ganz Eigenes, der Berliner Schick, über den man heute nur noch spekulieren kann (niemand hat Berliner Konfektionsmode fürs Museum gesammelt), und der zu tun hatte mit Improvisation und Neugier. Und natürlich mit einem phantastischen Geschäftssinn. Paul Poirets korsettlose Schnitte setzten sich in Berlin schneller durch als in Paris. In Berlin erkannte man sofort, daß sich diese Kleider wundervoll maschinell nacharbeiten ließen – keine Verschnürungen, keine Verstrebungen, keine komplizierten Drapees über einem cul de Paris.

Amerikanische Einkäufer strebten scharenweise nach Berlin, um zu lernen, wie man Mode verkauft. Die Berliner zeigten ihre Modelle an schönen Mannequins. Veranstalteten Modenschauen, Wohltätigkeitsbasare und Sondervorführungen mit Modellen, die aus den ersten Kunstfasern hergestellt worden waren. Sie hatten Einfälle ohne Ende. Gerson, einer der größten Konfektionäre am Hausvogteiplatz, holte 1924 den Pavillon der Lyoner Seidenindustrie aus der Weltausstellung und stellte ihn mit all seinen Seidenbrokaten, Damast- und Samtstoffen in sein Haus am Werderschen Markt.

Daß die Ideen, heute würde man sagen: die Trends, nach wie vor aus Paris kamen, bereitete den Berlinern keine Bauchschmerzen. Nicht einmal während der Kriegsbegeisterung im Ersten Weltkrieg: „Keine nationale Tracht, keine nationale Mode soll und kann jemals geschaffen werden, denn die Mode ist so international wie die Gesellschaft, das Geld, die Wirtschaft, die Kunst“, hieß es 1915 in einem Kommuniqué des Hauses Gerson.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine jüdischen Konfektionäre mehr in Berlin. Es gab auch keinen Hausvogteiplatz mehr. Die Deutschen schaufelten den Schutt beiseite und hörten nichts von dem spektakulären Entree Monsieur Diors in die Modewelt. Das war 1947. Erst ein Jahr später wagten es deutsche Zeitungen, über diesen verrückten Franzosen zu berichten, der das Korsett propagierte und weite glockige Röcke, für die man mehr Stoff brauchte, als die Jahresration einer deutschen Trümmerfrau hergab. Unpraktischer hätte die neue Mode nicht sein können. Natürlich wurde sie sofort kopiert. Die Frauen trennten die Schulterpolster aus ihren Jacken, verlängerten die Röcke mit Stoffresten.

Diors „New Look“ nachzuarbeiten erforderte Könner. Und siehe da – über Nacht wuchsen in Deutschland neue Modeschöpfer aus dem Boden: in München Heinz Schulze-Varell und Bessie Becker, in Wiesbaden Elise Topell, in Lübeck Charles Ritter, in Frankfurt Konrad Zetsche. Die meisten aber kamen nach Berlin: Heinz Oestergaard, Uli Richter, Günter Brosda und andere, deren Namen heute kaum noch jemand kennt.

Deutsche Modeschöpfer verschliefen den Rock 'n' Roll

Damals liebten die Deutschen Mode. Bereits im Oktober 1945 erschien das erste Modejournal – Berlins Modenblatt. Zwei Jahre später gab es bereits dreißig Mode- und Frauenzeitschriften. Auch die Tageszeitungen schärmten wieder von der Eleganz der Berliner Mode. Nur Karl Lagerfeld sah das anders: „Auf der Straße sah es grau und farblos aus. Als Höhepunkt sommerlichen Chics trug man ein Kostüm mit weißer Tasche und weißen Schuhen. Dazu dann niveagepflegte Haut und mausbraunes Haar.“ Lagerfeld ging 1959 nach Paris und kam nie mehr zurück. Es ging auch ohne ihn aufwärts. 1961 gab es in Berlin vierhundert Damenoberbekleidungsfirmen – die meisten rund um den Ku'damm – mit 60.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von einer Milliarde Mark. Doch dann – die Mauer. Mit der Selbstversiegelung der DDR fehlte es plötzlich an Näherinnen aus dem Osten. Doch nicht allein dieser Umstand war schuld am Ende der Mode aus Berlin in den sechziger Jahren. Eine Dekade zuvor hatte etwas Neues begonnen. Aber die Berliner hatten es – mit einer Ausnahme – verschlafen.

Die Mode kam plötzlich von der Straße. Junge Männer gingen in Arbeiterhosen und Unterwäsche. Junge Mädchen weigerten sich, wie ihre Mütter auszusehen. Sie wollten keine Kostüme, sondern Kleider, in denen sie sich frei bewegen konnten. Ein Skandal! Und absolut konfektionsfreundlich. Junge Modedesigner auf der ganzen Welt erkannten das. In Italien Emilio Pucci und seine bedruckten Jerseykleider. In England Mary Quant und der Minirock. In Frankreich erklärte Yves Saint Laurent 1968: „Es ist absolut unmoralisch, egal wieviel Geld man hat, viertausend Franc für ein Jerseykleid zu bezahlen. Bei mir kostet es vierhundert Franc. Irgendwann will ich eines für vierzig Franc machen.“ Zwei Jahre zuvor hatte er seine erste Rive-Gauche-Boutique eröffnet – und damit die Konfektion als Prêt-à-porter neu erfunden.

Es war noch einmal wie in den zwanziger Jahren! Statt penibler Paßform, kostbarer Stoffe und aufwendiger Verzierungen gab es plötzlich wieder eine Mode, die einfach herzustellen war und die sich deshalb alle leisten konnten: Hemdblusenkleider, später Kombimode mit Blazer, Pullunder, Faltenrock oder Hose. Diese neue Mode war alltagstauglich und nahm keine Rücksicht auf Standesunterschiede. Sie war modern –und billig.

Warum taten sich nur die Deutschen so schwer mit diesen Veränderungen? Es gab ein paar schwache Versuche, sich der neuen Zeit anzupassen. Uli Richter entwarf als erster in Deutschland eine eigene Prêt-à-porter-Kollektion. Günter Brosda zeigte eine Musterkollektion aus der neuen Kunstfaser Trevira. Es reichte nicht. Die deutschen Modeschöpfer nannten sich Couturiers, was sie früher nie getan hatten, und entwarfen lieber Maßkleider für die neuen Reichen. Seitdem haben Entwurf, Handel und Fabrikanten hierzulande nie wieder zusammengefunden.

Nur einer begriff wirklich, was in den fünfziger Jahren passierte: Heinz Oestergaard. Er hatte zwar ein eigenes Couturehaus in Berlin, aber daneben entwarf er Berufsbekleidung für Krankenschwestern, Pfarrer, Gärtner und Metzger, die russische Handelsmarine und deutsche Polizisten. Er erweiterte die Soutanen der katholischen Pfarrer mit einer Rückenfalte, so daß die Geistlichkeit genügend Bewegungsfreiheit hatte, wenn sie kniete. 1956 fing er an, Mieder und Unterwäsche für Triumph zu entwerfen.

Einfluß- und umsatzstärkster deutscher Modekonzern: Adidas

1967 verließ Oestergaard Berlin, um für Grete Schickedanz in Fürth zu arbeiten. Seine Presseerklärung von damals hat heute noch so viel Schwung wie 1967 : „Demokratisierung der Mode bedeutet: die Haute Couture unter Wahrung ihres individuellen hochmodischen Charakters einer breiten Schicht zugänglich zu machen ... Das Großversandhaus Quelle hat als erstes Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland eine revolutionäre Idee in die Tat umgesetzt: Haute Couture zu erschwinglichen Preisen jeder Frau zugänglich zu machen.“

Mit ihm stellte sich letztmals ein deutscher Designer aus der obersten Riege in den Dienst der Massenkonfektion. 1984 gab es noch einmal ein kurzes Aufflakkern am Himmel der deutschen Konfektion, als Manfred Kronen, Chef der Düsseldorfer Modemesse, eine Riege von jungen deutschen Designern präsentierte: Beatrice Hympendahl, Caren Pfleger und Wolfgang Joop. Aber der Hype war schnell vorbei. Entweder wollten die Designer nicht, oder die Industrie zeigte sich desinteressiert.

Richtig erfolgreich waren in den achtziger und neunziger Jahren vor allem Boss, Escada, Joop und Jil Sander. Alle vier gehören zur Luxuskonfektion. Keine deutsche Firma kann heute umsatzmäßig The Gap, Benetton oder H&M das Wasser reichen. Der größte deutsche Bekleidungslieferant ist heute Adidas. Deren Erfolg ist allerdings gänzlich unverdient. Das Management lag jahrelang im Tiefschlaf. Es wachte erst auf, als die Fans lautstark an die Tür pochten und neue Gazelleturnschuhe forderten. Woran liegt's, daß Deutschland modisch nie hervorsticht?

Das Mißtrauen zwischen Kreativen und Handel in Deutschland ist notorisch. Sieht man sich die Geschäfte an, möchte man vor allem dem Handel die Schuld in die Schuhe schieben. Wohin man sieht: Einheitsmode, Einheitsfarben, Einheitsgrößen. Wo ist der Spaß? Wer orientiert sich an Prada, an Gucci, an den Japanern, wer greift die Ideen von Margiela auf, wer vermittelt sie – und übersetzt sie für die Konfektion? Wer kümmert sich um die Modeschulen, fördert junge Designer?

Den Hausvogteiplatz baut offenkundig niemand wieder auf.

Anja Seeliger, Berlinerin, schreibt regelmäßig in der taz, vor allem über Mode und Pariser Modeschauen