: Jesus auf dem Baggersee
■ Klangphilosoph K. H. Wittig aus Brake-Ovelgönne hat im Wald bei Harpstedt-Horstedt zwei Klanglehrpfade angelegt / Zur Eröffnung am Sonntag wird er sich in einen Bootsmann verwandeln
Klaus Harald Wittig sieht mit seinen langen Korkenzieherlocken und seinem auf Schlüsselbeinhöhe herunterreichenden Bart aus wie Jesus Christus, und manchmal spielt er auch dessen Rolle. „Mindestens einmal im Jahr sollte man etwas Verrücktes tun“, sagt der Mittdreißiger aus Ovelgönne bei Brake mit leuchtenden Augen. Und der Tag, an dem Klaus Harald Wittig etwas Verrücktes tun wird, dieser Tag, o Gemeinde, er ist nahe.
Der Ort, an dem Klaus Harald Wittig etwas verrückt sein wird, ist eine kleine Reise wert. Der an der Uni Oldenburg studierende Musikwissenschaftler, dessen Frau Annika Christina Märchenerzählerin ist und der zusammen mit ihr und den beiden Kindern im Sommer mit einem 76 Jahre alten Zigeunerwagen Märchen erzählend und Musik machend durch Norddeutschland reist, lädt an der Großen Höhe zur Audienz. Diesen eher wie ein Hauch aus der Ebene aufragenden Hügel findet der Suchende südlich von Delmenhorst, wo die Wildeshauser Geest beginnt. Zwischen kleinen Dörfern, die Horstedt oder Prinzhöfte heißen, und zwischen einem Segelflugplatz und den in dieser Gegend ubiquitären militärischen Sperrgebieten wächst ein Wald. Und mitten in diesem Wald gibt es seit fünf Jahren ein Kultur- und Tagungshaus namens „Mikado“.
Klaus Harald Wittig kommt zu spät. Das Jesus-Double aus Ovelgönne hatte Profanes zu erledigen. Schrifttafeln aus der Druckerei holen zum Beispiel. Oder mal eben schnell einen Hänger besorgen, der unter einem zentnerschweren Findling nicht zusammenbricht. Aber Wittig ist trotzdem ruhig. Beeindruckend ruhig. Eigentlich: phänomenal ruhig. Wanderer: Solche Menschen findest Du in der Großstadt nicht. Menschen wie Wittig oder die InhaberInnen des Kultur- und Tagungshauses – eines Zentrums für ganzheitliches Lernen mit Filiale namens „Mikado“ im Wald und einer Zentrale im Dorf Prinzhöfte – brauchen ihre Freiheiten. Die Freiheit, erst einen Kindergarten und dann eine Schule zu gründen, wenn ihre Kinder erst im Kindergarten- und dann im Schulalter sind. Die Freiheit, ein hausgroßes Tipi im Garten aufzustellen. Die Freiheit, in Tieffluggebieten zu leben. Und die Freiheit, ein immerhin mit rund 45.000 Mark Projektmitteln der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Niedersachsen und anderen finanziertes sommerliches Kulturprogramm auf die Beine zu stellen.
„Mikados“ 99er-Programm heißt und rankt sich um „Soundwalk“, und Wittig hat es ausgeheckt. An zwei Dutzend Stationen eines kleineren und eines größeren Rundgangs hat er Findlinge und Schilder mit hörphilosophischen Texten sowie Denkaufgaben im Wald plaziert. Er spricht vom „Ohren-Yoga“ und davon, daß man sich darauf einlassen muß. Was muß man? Vor allem: Hinhören. Denn Wittig installiert keine Geräusche, serviert kein Sound-Design, sondern arbeitet sozusagen mit Readymades. Auf die Frage, ob das esoterisch ist, sagt er: „Esoterik war einmal das verborgene Wissen. Heute gibt es keine Esoterik mehr, sondern nur noch Exoterik, weil alles Wissen offenliegt.“
Wenn Wittig so etwas sagt, sagt er es ganz bescheiden. Er selbst ist überzeugt von dem, was er tut, und braucht niemanden von sich zu überzeugen. Wittig – jetzt ganz akademisch – spricht von den Unterschieden zwischen visuellen und akustischen Horizonten. Will sagen: Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht, und doch hörst du je nach Wind, wie die französischen Yogurt-Transporter auf dem Weg nach Dänemark auf der nahen Autobahn den dänischen Yogurt-Transportern auf dem Weg nach Frankreich begegnen.
Aber, Wanderer, im Wald hörst du bald mehr. An Station drei des größeren, in eineinhalb Stunden oder mehr zu erwandernden Hörlehrpfads rauscht der Wind besonders musikalisch durch die Baumkronen. An Station fünf wetteifern die Vögel mit den Fröschen im Baggersee. Ab Station sieben verwandelt sich der Hörlehrpfad in einen Seh- und Riechlehrpfad. An Station zehn machen selbst die Fische Lärm. Und spätestens jetzt bist Du ganz benommen und möchtest etwas Verrücktes tun. Wenigstens einmal im Jahr. So wie Klaus Harald Wittig.
Am Sonntag früh zur Morgendämmerung, wenn man die Autobahn nicht hört, wird er zusammen mit einer Musikerin mit einem Boot über den Baggersee fahren. Sie werden Musik machen und sprechen wie ein berühmter Mann mit Bart vor 2.000 Jahren auf dem See Genezareth. Jener Mann wußte, daß ruhiges Wasser den Schall gut zum Ufer überträgt. Auch Klaus Harald Wittig weiß das. Am Sonntag morgen wird er Jesus sein! Christoph Köster
Morgendämmerungshappening,Sonntag, fünf (!) Uhr, Treffpunkt Kultur- und Tagungshaus „Mikado“. Offizielle Eröffnung des Sound-walks um elf Uhr mit Musik, Märchen und anderen Nervenkitzeln. „Mikado“ ist an der Straße zwischen Hoyerswege (bei Ganderkesee) und Prinzhöfte an der Großen Höheund gut ausgeschildert.
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