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Piratenspiele im Wald

Jeden Tag ziehen zwei Erzieherinnen und elf Kids des Waldkindergartens für vier Stunden in den Spandauer Forst – ganz egal, ob es schneit oder die Sonne scheint  ■   Von Sabine am Orde

Sula, Janis und Paul segeln auf einem Piratenboot. Stolz stellt Sula ihre Fahne auf, einen Ast mit einem weißen Tuch von Gabi Venus, der Erzieherin. Mit voller Kraft hämmert Janis auf einem der dicken Stämme herum, die dicht nebeneinander auf dem Waldboden liegen. Sein Hammer ist ein kurzes Stück Stamm mit einem dünnen Ast daran. Alles wackelt, der Stock mit der Fahne fällt um. „Warum haust du so fest?“, ruft Sula, eine forsche Vierjährige mit dunklen Locken, empört. Ungerührt hämmert Janis weiter. „Ich muß das Boot reparieren“, sagt er ernst und ohne aufzublicken.

Es ist der letzte Donnerstag im April, kurz nach zehn. Seit anderthalb Stunden sind Sula, Janis, Paul und drei weitere Knirpse mit ihren zwei Erzieherinnen im Spandauer Forst unterwegs. Die Sonne scheint zwischen den Wolken hindurch, der Waldboden ist feucht, die Luft kühl. Doch auch wenn es regnen oder schneien würde, die Gruppe, die eigentlich aus insgesamt elf Drei- und Vierjährigen besteht, wäre hier. Denn die Spandauer Kids sind in Berlins erstem Waldkindergarten untergebracht.

Seit einem halben Jahr liefern die Eltern ihren Nachwuchs jeden Morgen um halb neun an dem Waldparkplatz hinter dem Johannisstift ab, nach Abschiedsküssen und einem Begrüßungslied ziehen Erzieherinnen und Kinder mit einem Bollerwagen los. Vier Stunden, im Winter drei, bleiben sie hier, in ihrem Wald. Da werden Holzstämme zu Piratenbooten und Backöfen, Äste zu Rudern und Rasenmähern, Moos zu Pizzateig und Blätter zu der Salami darauf. Nur bei Sturm, Gewitter und strömendem Regen geht es in eine Notunterkunft, die das Johannisstift zur Verfügung gestellt hat. Sieben Mal hat die Gruppe sie bislang genutzt.

Die Idee der Waldkindergärten entstand vor etwa 20 Jahren in Dänemark, in der Bundesrepublik zog die erste Gruppe vor sieben Jahren in den Wald. Heute gibt es bundesweit rund 100 Waldkindergärten, noch ist der Spandauer in Berlin der einzige.

„Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, Sula in einer normalen Kita unterzubringen, wo es eng und laut ist“, sagt Sulas Mutter, Gundula Stamm, eine Försterin. „Sie braucht Platz, um sich auszutoben.“ Als Stamm vor etwa zwei Jahren von einem Waldkindergarten in Flensburg hörte, war für sie klar: In eine solche Einrichtung soll ihre Tochter auch. Schnell fand sie zwei andere Mütter als Mitstreiterinnen, dann begann der Kampf mit der Bürokratie. Die Senatsjugendverwaltung, für freie Kita-Träger zuständig, war zwar „sehr aufgeschlossen“ und erteilte schließlich auch die Betriebserlaubnis, doch Geld gab sie keins: Weil es genug Kitaplätze gibt, werden neue Einrichtungen nicht finanziert. Die Personalkosten für Gabi Venus und ihre Kollegin zahlt jetzt das Arbeitsamt aus ABM-Mitteln, den Rest der Unkosten trägt der Elternverein.

„Wollen wir ein Stück weitergehen?“, fragt Gabi Venus die Piratenkids. „Ja, zum Kullerberg“, ruft Sula und stürmt mit Janis im Schlepptau los. Die Kinder kennen die Wege im Wald und haben ihren Orten hier längst Namen gegeben. Der Kullerberg ist eine sanfte Anhöhe im Forst, von der man sich eben gut runterkullern lassen kann. Aber für den Weg dorthin ist es heute schon zu spät. „Laßt uns lieber zur Waldwiese gehen“, ruft Carola Leidecker, die zweite Erzieherin, Sula und Janis hinterher. Doch die sind längst damit beschäftigt, eine kleine Buche zu erklimmen.

Als die anderen sie eingeholt haben, steht Sula mit traurigem Blick neben dem Baum. „Guck mal, Carola“, sagt sie zur Erzieherin. Sie hat einen der jungen Äste vom Stamm angebrochen. „Wenn wir das festbinden, wächst es vielleicht wieder an“, sagt Carola Leidecker. „Hol mal etwas Moos und ein paar lange Grashalme.“ Sula zieht los und zehn Minuten später hat die Buche einen Verband aus Moos und Blättern.

Lisa zupft an dem Ärmel von Gabis Venus' gelber Allwetterjakke und sagt leise etwas zu ihr. Bisher hat der stille Blondschopf mit der pinkfarbener Häkelmütze mit einem kleinen Stock in den Blättern am Waldboden herumgestochert. „Lisa hat Hunger“, sagt Gabi Venus zu den anderen Kids, „laßt uns mal weitergehen.“ Wieder rennen Sula und Janis vorneweg, jetzt sind auch Lisa und Björn mit dabei. Einmal rechts um die Ecke, dann sind sie da: an einer Wiese im Wald, die von Buchen und einigen Birken umgeben ist. Gabi Venus wühlt im Bollerwagen und zieht eine kleine Tupperdose und ein Handtuch heraus. „Händewaschen“ ruft sie und gibt jedem Kind etwas Lavaerde in die ausgestreckten Hände, die anschließend mit Wasser aus einem Kanister abgespült werden.

Das Wasser hätte fast das ganze Projekt gekippt. „Das Gesundheitsamt wollte unbedingt, daß wir 20 Liter Wasser mitnehmen“, erinnert sich Gundula Stamm, die wenig Verständnis für derartige Auflagen hat. „Aber das kann man doch gar nicht mehr transportieren.“ Jetzt sind im Bollerwagen knapp acht Liter untergebracht, dazu Thermoskannen mit Tee, Wechselwäsche, ein Erste-Hilfe-Kasten mit Zeckenschere und ein Handy für den Notfall, außerdem eine Plane als Regenschutz sowie Klopapier und eine Schippe, um Kinderkacke zu vergraben.

„Ich will Tee“, ruft Björn, der längst ein kleines Stück Thermomatte, einen Becher, Brote und Kiwistückchen aus seinem Rucksack gekramt hat. Diese Ausrüstung hat jedes der Kinder dabei. Sula und Janis haben Brote und Apfelschnitze schnell verdrückt, sie wollen schaukeln. Dafür gibt es im Bollerwagen ein dickes Seil, das Carola Leidecker nach dem Frühstück an zwei Bäumen festbindet. „Ich bin zuerst“, fordert Sula, doch dieses Mal läßt sich Janis nicht unterkriegen.

In der Sonne wird es warm, die ersten Jacken landen auf der Wiese. Die Kids stecken allesamt in „Buddelhosen“ aus wasserfestem Kunststoff, die bis zu den Achseln reichen und anscheinend nur in blau und rot zu haben sind. Darüber tragen sie Regenjacken, an den Füßen stecken Wanderschuhe oder Gummistiefel. „Im Winter trugen sie unter den Hosen noch Skianzüge“, sagt Gabi Venus. „Kalt war höchstens uns, die Kinder sind ja immer in Bewegung.“

Am Tag zuvor hat sich die Gruppe ein Buch über die Vögel des Waldes angesehen, heute wollen sie Nester bauen. Carola Leidecker holt bunte Pappe, Scheren und Kleber aus ihrem Rucksack. „Paul, welche Farbe willst du?“, fragt sie den kleinen Knirps, der noch immer auf seiner Thermomatte hockt. „Braun“, sagt Paul müde. Er ist gerade drei geworden und damit der jüngste in der Gruppe. Wunschgemäß bemalt die eine Erzieherin die bunte Pappe, die andere hilft beim Ausschneiden. Gräser und kleine Äste aus dem Wald für das Nest sammelt Paul selbst. „So etwas geht im Winter natürlich nicht“, sagt Gabi Venus. Dann sind Bewegungsspiele angesagt, es ist zu kalt zum Basteln und Vorlesen.

Das hat Waldkindergärten den Vorwurf eingebracht, die Kinder würden nicht genug auf die Schule vorbereitet. „Quatsch“ sei das, findet Gundula Stamm: „Hier können die Kinder doch viel mehr lernen.“ Das Klettern, Rutschen und Balancieren im unebenen Gelände fördere die Motorik, das fehlende fertige Spielzeug die Phantasie. „Außerdem müssen die Kinder hier viel mehr miteinander reden, weil ein Stock mal ein Ruder und mal ein Schwert sein kann.“ Und weil sie genug Platz zum Rennen und Toben haben, seien die Kids konzentrierter, ausgeglichener und seltener krank als andere Kinder. Außerdem hofft die Försterin, daß der Nachwuchs später sorgsam mit der Natur umgeht, weil er „mit ihr aufgewachsen ist“.

Inzwischen ist es halb zwölf, am Himmel ziehen dunkle Wolken auf. „Die Nester machen wir morgen fertig“, sagt Gabi Venus, „laßt uns mal einpacken.“ Die Kinder räumen ihre Rucksäcke ein und schlüpfen in die Jacken, die Bastelsachen packen die Erzieherinnen weg. Sula und Janis laufen wieder vor, an der nächsten Ecke schleifen sie Äste auf den Weg. „Erwachsene kommen hier nicht durch“, ruft Sula mit einem kessen Blick den Erzieherinnen zu, doch dann starrt sie gebannt auf den Waldboden. „Eine Schnecke!“ Björn und Lisa rennen zu ihr, auch Paul und Maria trotten an den Händen der Erzieherinnen heran. „Das ist eine Nacktschnecke“, sagt Carola Leidecker, „wir sollten sie vom Weg räumen.“ Janis hebt ein Stück Rinde auf und schiebt mit Hilfe der Erzieherin die Schnecke darauf. Nach der Rettungsaktion rennen er und Sula wieder los.

An einer Weggabelung kurz vor dem Parkplatz warten die beiden Großen, legen sich nebeneinander auf den Boden, dann rangeln sie. Plötzlich weint Sula, nach vier Stunden im Wald sind auch die Vierjährigen erschöpft. Als die Tränen getrocknet sind, stimmen die Erzieherinnen ein Abschiedslied an. Am Parkplatz warten die Eltern schon.

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