: Dürfen Gottesmütter altern?
■ „Gerettete Originale“: Eine Ausstellung mittelalterlicher Plastiken in der Böttcherstraße klärt über Erlaubtes und Unerlaubtes beim Restaurieren auf
Eigentlich geht es uns Menschen ja noch ganz gut mit dem Altern. Zwar frißt die Cellulitis so tiefe Rinnen ins obergeschenkelte Fettgewebe wie die Donau bei Weltenburg in den Fels. Und die Krampfadern werfen sich zu Hochgebirgen auf, als fände gerade irgendwo unter der Haut eine Kontinentalplattenverschiebung statt. Aber was sollte da erst das arme Lamm in den Armen des Heiligen Johannes jammern, dem fanatische Christen solange im lammfrommen Gesichtchen herumgrabschten, bis davon nur noch ein zombieartiger Hefeteig in Holz übrigblieb? Und was muß erst jene Muttergottes erleiden, der eine Folterspezialistin namens Zeit die ganze schöne, bunte Farbhaut Plättchen für Plättchen vom Fleisch nagte – ratsch, ratsch. Krustig wie ein Brandopfer steht sie jetzt im Paula Modersohn-Becker Museum zusammen mit jenen 24 anderen Holzskulpturen des 15. Jahrhunderts, die der alte Roselius zum Zwecke seiner Wohnzimmermöblierung einst erwarb.
Das Museum packte seinen kompletten Mittelaltervorrat – es ist der umfassendste in ganz Bremen! – aus dem Depot, um seinen Beitrag zu leisten für ein ambitioniertes Gemeinschaftsprojekt von sieben Bremer Museum. Unter dem Titel „Wir haben die Originale“ werden die Kategorien Einzigartigkeit und Authentizität hinterfragt. Da darf natürlich ein Statement zu Fragen der Restaurierung nicht fehlen. Und so kann nun in der Böttcherstraße die zur Zeit herrschende Deutung des Begriffs „Bewahren“ besichtigt werden. Sie ist bescheiden, sie ist skrupulös. Ganz der alte Sokrates: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Weil sich bislang noch alle Restaurierungskonzepte über die Jahre als höchst zweifelhaft herausgestellt hatten, wird heute nichts gemacht, was nicht wieder rückgängig zu machen wäre. Somit gibt es einen eklatanten Unterschied zwischen Restauratoren und bombenschmeißenden Politikern.
Doch den gab es nicht immer. Ein doppeltes Mißverständnis führte dazu, daß das 18. und 19 Jahrhundert ein Vergnügen darin fand, die bunten Fassungen mittelalterlicher Plastiken zu entfernen. Erstens meinte man, sie dem antiken Ideal anpassen zu müssen, und zweitens dachte man sich die antike Plastik unbemalt – fälschlicherweise. Alternativ dazu wurden schrundig gewordene Fassungen aber auch übermalt. Versuchten dann ehrsame Restauratoren den Farbverhau durch dicken Leimanstrich zu sichern, geriet alles ins Bröseln. Klassisches Beispiel für Verschlimmbesserung im Namen der Statuenwürde.
Heute dagegen wird jedem Riß, jedem Farbbrösel und selbst dem Wurmfraß die allerhöchste Ehrfurcht gezollt. Nichts wird ergänzt, gekittet, ersetzt. So muß eine Meerjungfrau mit ihren leprösen Armstummel leben und kann den Hl. Christopherus nicht mehr durch Harfenspiel becircen. Und das Kleid eines Kardinals bleibt ohne Kordeln, obwohl jede Menge Ösen dafür vorhanden wären; denn träfe man die richtige Farbe, die richtige Schnurdicke, ojeoje. Zwar wird eine Plastik vor dem Auseinanderbrechen durch teuren Störleim bewahrt, der inwendig angebracht wird. Doch außen soll der Riß sichtbar bleiben. Am beeindruckendsten ist diese Kunst radikaler Zurückhaltung bei einer Beweinung Christi, übrigens der mit Abstand größte Stolz des Hauses. Sie stammt vom Würzburger Tilman Riemenschneider, den Thomas Mann in seiner legendären Rede „Deutschland und die Deutschen“ rühmte als strahlendes Gegenbild zum deutsch-lutherischen in Hitler kulminierenden Unterordnungsgeist und der wegen seiner Unterstützung der Bauernkriege vertrieben und gefoltert wurde. Gefoltert wurde auch seine Plastik, von einer Horde von Würmern. Ihr Hunger hat ein tachistisches Gemälde über die Trauergemeinde gelegt. Es könnte von Cy Twombly sein. Hier und auch bei anderen Plastiken kann man Brüche und Risse nicht nur als Defizit sehen, sondern als ästhetischen Mehrwert: ein dünn gefressener erhobener Zeigefinger, ein starkes, zielorientiertes Auge, das wacker aus einem entblätterten Gesicht herausblickt. Nur Fassungen aus der jüngsten Vergangenheit haben bei Restauratoren schlechte Karten: Weg mit der bunten Fälschung. Aber was ist das Original?
Für die enorme Geduld, die Restaurateure in eine Arbeit investieren, die nur dann gut ist, wenn sie unsichtbar bleibt, haben die Ausstellungsmacher keine überzeugenden Bilder gefunden. Ein wenig hilflos stehen Töpfchen mit Pülverchen in Vitrinen. Umwerfend aber: ein dendrochronologisches Diagramm. Mit dessen Hilfe läßt sich bei einem Baum anhand der Dicke und Zahl seiner Jahresringe exakt sein Geburts- und Sterbejahr herauskriegen. Ach ist es gut, ein Mensch zu sein. Mitsamt Cellulitis. Die darf man wenigstens übertünchen. bk
Vernissage heute, 19 Uhr; bis 8. August.
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