50 Jahre Bundesrepublik Deutschland: Die Bundesrepublik in meinem Leben
■ taz-Serie „Migranten ziehen Bilanz“: Wladimir Kaminer über das Wohlsein als Fremder
So jung ist sie?! In der sowjetischen Schule lernten wir, daß es schon immer zwei Deutschlands gab und eins davon mußte die Bundesrepublik sein. Das Wort „Bund“ stand für Qualität: Die „Bundeshosen“ waren die teuersten auf dem Schwarzmarkt, es gab außerdem „Bundeszigaretten“ und „Bundesmusik“. Die deutschen Touristen vor dem Intourist-Hotel, denen man ab und zu ein paar Lenin-Anstecker andrehen konnte, wurden „Bundessa“ genannt. Doch genaugenommen kenne ich die Bundesrepublik erst, seitdem es sie nicht mehr gibt.
Es fing vor dem Fernseher an. Damals waren die Nachrichten noch nicht so spannend wie Horrorfilme: Zuerst wurde ein neuer Traktor gezeigt, dann der Politiker, der gerade gestorben war, nach ihm kamen in irgendwelche Schläuche gewickelte russische Kosmonauten und schließlich eine schlechte Wetterprognose. Die letzten fünf Minuten waren immer Nachrichten aus dem Rest der Welt. Darunter war ein Bild aus Deutschland: Die Autonomen besetzten leerstehende Häuser in Ostberlin. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte ich meinen Freund Mischa, der für seine Allgemeinbildung in Sachen Wilder Westen bekannt war. „Und was heißt überhaupt autonom? Wieso stehen in Berlin Häuser leer? Und wo bleiben die Panzer der Polizei?“ „Na ja,“ murmelte Mischa, „es ist dort eben alles ein wenig anders als bei uns. Es kommt vor, daß nicht in jedem Haus Menschen leben. Und mit den Panzern gehen die Deutschen seit dem Krieg sehr vorsichtig um. Wegen ein paar besetzter Häuser regen die sich halt nicht auf.“ „Sie regen sich wegen besetzter Häuser nicht auf? Da müssen wir hin!“ Mein Nachbar, der Schauspieler Andrej, der gerade von einer Dienstreise in die BRD zurückkam, gab mir drei West-Mark für unterwegs. „Ist das viel oder wenig?“ fragte ich ihn. „Schwer zu sagen, deren Preise kannst du mit unseren nicht vergleichen: Für drei Mark bekommst du dort ein Kilo Bananen oder ein Brot, du kannst damit Straßenbahn fahren oder drei Tafeln Schokolade kaufen“. Für mich klang das sehr verwirrend, bei uns könnte man für eine Tafel Schokolade einen Monat lang Straßenbahn fahren und für ein Kilo Bananen zwei Kisten Brot kaufen. Ich versteckte die drei West-Mark in meiner Socke.
Im Sommer 1990 erreichten wir endlich Berlin. Die Währungsunion war gerade vorbei, und überall lagen Ostmünzen auf dem Boden. Wir übernachteten in einem besetzten Haus in Friedrichshain und fuhren am nächsten Tag per Anhalter in den Wilden Westen Bundesrepublik. Der Pensionsbesitzer in Hamburg hielt uns für Ostdeutsche. Aus tiefstem Herzen glaubte er, daß die Ostdeutschen alle gebrochenes Deutsch sprachen und rote Pässe besaßen. Natürlich waren wir fremd. Aber die Bundesrepublik schien mir gerade ein Ort zu sein, wo man sich als Fremder viel wohler fühlen konnte als die Einheimischen. Das heißt, man kann hier alle süßen Früchte der neu errichteten Demokratie in vollem Ausmaß genießen, ohne die ganzen deutschen Zwänge mitmachen zu müssen.
Wladimir Kaminer ‚/B‘ Der Journalist Kaminer (32) studierte Dramaturgie in Moskau und lebt seit 1990 in Berlin
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