: Der wahre Roman H.
Am Sonntag wird sein Nachfolger gewählt. Bundespräsident Roman Herzog wird dann nach fünf Jahren Abschied von seinem Amt nehmen. „Schlitzohr mit Tiefgang“ wurde er genannt, andere hießen ihn „Präsident Geradeheraus“. Angetreten im Schatten von Richard von Weizäcker, hatte er keinen leichten Start. Kritiker sahen in ihm eine Notlösung. Während viele Bürger von dem früheren Bundesverfassungsrichter geistige Führung erwarteten, hat der Bayer Roman Herzog sein Amt oft selbstironisch gestaltet – der Präsident ls erster Angestellter im öffentlichen Dienst. Bemerkungen über den Mann, der nicht Richard II. sein wollte ■ von Patrik Schwarz
„Roman Herzog fehlt die Begabung zur Feierlichkeit, das ist für das neue Amt ein Problem, berechtigt aber auch zu schönen Hoffnungen.“ Peter Glotz nach Herzogs Wahl 1994
Neunzehn war die junge Frau, als sie Roman Herzog begegnete. Es war auf einer dieser Veranstaltungen, deren es viele gab im Schloß Bellevue der vergangenen fünf Herzogjahre und auf denen die Jugend ihren Präsidenten treffen sollte. Die junge Frau hatte gehört, bayerisch-behäbig sei der Präsident, ein wenig brummig manchmal, aber mit jovialem Charme und vor allem einem demonstrativen Selbstbewußtsein ausgestattet. Fast eine Stunde lang teilte sie mit dem ersten Mann im Staat ein Podium, diskutierte mit ihm über Jugend, Politik und Zukunft. Noch drei Jahre später ist ihr ein Eindruck von Roman Herzog besonders in Erinnerung geblieben: „Es ruft immer aus ihm raus: Ich bin's doch, der Roman! Als ob er dauernd die Leute rütteln würde: Seid doch normal zu mir!“ Behäbig? Vielleicht. Charmant? Nicht unbedingt. Selbstbewußt? „Auf keinen Fall!“ Ihr schien, als sei die Forschheit des Auftretens nur Schminke. „Da war diese typische Männerunsicherheit.“ Angst glaubte die 19jährige in Herzogs Auftritt zu spüren. „Wie ein großer, gemütlicher Bär, der in die Welt geschubst wird und Bundespräsident sein muß.“
Eine Einzelmeinung, natürlich. Ein Eindruck nach nicht mal einer Stunde Gespräch. Und so wäre die Beobachtung vielleicht nicht weiter bemerkenswert, wenn sich nicht bei einem der schärfsten öffentlichen Kritiker des Bundespräsidenten ein aufschlußreicher Passus über die Bedeutung der Angst im politischen Weltbild des Roman Herzog fände. Der Publizist Jan Roß beschäftigt sich in seinem Buch „Die neuen Staatsfeinde“ en detail mit Herzogs berühmter „Ruckrede“. Deren zentraler Satz lautet: „Durch Deutschland muß ein Ruck gehen.“
Im neueröffneten Berliner Hotel Adlon rief Herzog im April 1997 zu einer Erneuerung der Gesellschaft auf. „Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise.“ Deutschland brauche „einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft“. Herzogs Appell gipfelte in dem Satz: „Alle, wirklich alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand.“ Dann ein Finale, das eher an einen amerikanischen Präsidenten erinnerte: „Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“ Für das politische Vermächtnis Roman Herzogs spielt diese Ansprache die singuläre Rolle, die bei seinem Vorgänger Richard von Weizsäcker die „8.-Mai-Rede“ zum 40. Jahrestag des Kriegsendes einnimmt.
Jan Roß nennt die Ruckrede „ein Musterbeispiel der gegenwärtigen Aufbruchsrhetorik“. Sie stelle Herzog in eine Reihe mit Politikern wie Gerhard Schröder, dem FDP-Chefideologen Guido Westerwelle oder Hans- Olaf Henkel, dem Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie. Seine Schubkraft, argumentiert Roß, erhält der Aufbruch freilich aus der Angst. „So liegt etwas Freudloses über der ganzen Ruck-, Tempo- und Modernisierungsprogrammatik. Trotz aller Beschwörung von Tatkraft und Aufbruchswillen kann sie nicht verleugnen, daß sie aus Angst geboren ist, aus der Angst, zurückzubleiben, abgehängt zu werden“. Man muß nicht gleich Roß' Einschätzung folgen und darin „eine Art Neowilhelminismus“ sehen, wo sich im Wetteifern um einen Platz an der Sonne der globalisierten Weltwirtschaft deutscher Geltungsdrang und narzißtische Kränkung mischen. Doch ebenso wie Herzogs wiederholten Plädoyers für mehr „Unverkrampftheit“ haftet den Innovationsappellen etwas Altbackenes an: Der Präsident, der stets das Kühne fordert und selbst ein Braver ist.
24. April 1997. Staatschefs haben manchmal merkwürdige Termine. Heute hält der Präsident der Bundesrepublik Deutschland eine Ansprache auf dem Bayerischen Sparkassentag zu Nürnberg. Gleich zu Beginn erinnert Roman Herzog daran: „Nürnberg war erster Demonstrationsort für die zentrale Basisinnovation des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn.“
3. Oktober 1994. Der Bundespräsident spricht bei einem Festakt in Bremen. Was fällt ihm zum Tag der Deutschen Einheit ein? „Ostdeutschland ist heute schon ein Laboratorium des Neuen. Hier werden neue Formen von Eigentum und Management entwickelt.“ Dann referiert er über Risikokapital und Management-Buy-out.
27. April 1995. Ansprache des Bundespräsidenten im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. „Was wir jetzt brauchen, ist eine Form des Erinnerns, die zuverlässig in die Zukunft wirkt.“
Gleich, wo Roman Herzog referiert, fast einerlei, zu welchem Thema – irgendwie kommt er immer auf Innovation und Zukunft zu sprechen. „Flexibilität, Mobilität, Innovation – lauter Platitüden, die von Bewegung reden, aber nichts darüber sagen, wo es hingehen soll“, monieren Kritiker wie Roß. Roman Herzog ist nicht nur der siebte Präsident in der Geschichte der Bundesrepublik, er ist vor allem der erste Präsident seit Richard von Weizsäkker.
Von einem Walter Scheel oder Karl Carstens erwartete niemand im Land geistige Führung. Doch seit Weizsäcker, berechtigt oder nicht, knüpft sich an das Amt wieder die Erwartung, der erste Mann im Staate möge „sagen, wo es hingehen soll“. Die Heilserwartung kleiner Leute und großer Leitartikler, ihr Präsident möge ihnen – bitte schön – Sinn stiften, hat Roman Herzog – danke schön – abgelehnt. Am offensichtlichsten unterläuft er solche Erwartungen bei öffentlichen Auftritten – gezielt und mit eulenspiegelhaften Einlagen. Systematisch entzaubere er sein Amt, beobachtete ein Reisebegleiter, indem er die Regieanweisungen seines Staatstheaters mitlese. Mal teilt er seufzend und vor aller Augen mit, was seine Beamten ihm gerade aufgetragen haben – und porträtiert sich so als des Staates erster Angestellter im öffentlichen Dienst. Dann hören die Gäste eines Benefizballs aus dem Mund des Bundespräsidenten, was die Protokollabteilung lieber unterschlagen hätte: Seiner Frau sei beim Ankleiden der Reißverschluß geplatzt, sie werde sich leider verspäten.
So spontan solche Pirouetten auf dem diplomatischen Parkett sein mögen, zufällig sind sie nicht. Bis zu seinem Einzug in die Villa Hammerschmidt 1994 war Herzog elf Jahre lang Richter am Bundesverfassungsgericht, erst als Vize-, dann als Präsident. Im Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig/Herzog stammen die Passagen zu den Rechten und Pflichten des Bundespräsidenten aus seiner Feder. Hinter seinen Ulkereien auf offener Bühne steckt Überlegung.
Er selbst erklärt sie als Versuch, das protokollarisch beschirmte Präsidentenamt für die Bürger transparenter zu machen. Bei Reden unterbricht er sich selbst mit Freuden, um persönliche Einwürfe zu tätigen (“das kennt man doch aus der eigenen Familie“) oder für zusätzliche Emphase zu sorgen (“da hat's mich gestern fast aus dem Bett gehaun“). So wie der Niederbayer schelmisch unter seinen Brillengläsern hervorlugt, wenn ihm ein Bonmot von gutmütiger Boshaftigkeit gelungen ist, schielt er immer wieder hinter seinem Amt hervor.
Begibt man sich auf die Suche nach Erklärungen für diesen Zug Roman Herzogs, taucht einmal mehr die Angst als treibende Kraft auf. „Keine Aura, keine Vibrations“, diagnostiziert der Politpsychologe des Spiegels, Jürgen Leinemann, beim Bundespräsidenten. Herzogs Ironie „verschafft ihm Abstand von Problemen und Menschen, wohl auch von sich selbst“. Trotz einer Körperlänge von 1,84 Metern und Schuhgröße 46 verschwinde die Figur in der Menge. „Es ist, als ob sein eigenes Unbehagen gegen Gefühle Roman Herzog zu einer blutleeren Idee seiner selbst entleerte.“ Der Präsident und Einser-Jurist, stark im Rationalen, fürchtet sich vor der Macht des Emotionalen?
Wenn denn wirklich Angst der Grund sein sollte, daß der Präsident sich bisweilen spöttelnd neben sich stellt, hätte sie sich zumindest politisch segensreich ausgewirkt: Seit dem „Bürgerpräsidenten“ Gustav Heinemann war kein Amtsinhaber so wenig Ersatzkaiser wie Roman Herzog. Seine unausgesprochene Botschaft ans Volk lautet: Auch der Präsident macht nur einen Job – der Boß seid ihr. Anders als Weizsäcker ist Herzog nie mit seiner Rolle verschmolzen. Man kann ihm das ankreiden. Man kann aber auch sagen, hierin – und nicht in seinem Innovationszirkus – liege die politische Stärke des Roman Herzog.
„Unsere Demokratie ist eine Sache für Rampensäue, auch Klassensprecher wird nur, wer gern vor anderen redet.“ schrieb kürzlich ein Feuilletonist.Trifft ein Verdikt womöglich ebenso auf Herzog zu? Manche Kommentatoren äußerten, in milderen Worten, den Verdacht, als 1995 die ARD die Fernsehreihe „Zu Gast bei Roman Herzog im Bellevue“ begann. Der Bundespräsident als Talkmaster – ein Egotrip auf Kosten der Gebührenzahler? An einem runden Tisch – das Symbol war beabsichtigt – versammelte der Präsident fünf Deutsche aus Ost und West. Man solle sich gegenseitig, so eine von Herzogs Lieblingsformulierungen, seine Biographien erzählen. Acht Ausgaben der Talk-runde wurden ausgestrahlt, die letzte im April 1999.
„Er widersetzt sich den gängigen Fernseherwartungen“, heißt es beim produzierenden Sender taktvoll, will heißen: So verhält sich kein Profimoderator. Gelegentlich griff Herzog hilfreich ein. Dann steuerte er zu einer Debatte über Vergangenheitsbewältigung bei, was ihm Desmond Tutu über die Wahrheitskommission in Südafrika anvertraut hatte. Meistens allerdings redete er kaum – und vielleicht war diese Zurückhaltung seine eigentliche Leistung. Nie war der Unterschied zu Weizsäckers Aristokratenhabitus prononcierter als in diesem Zuhören. Für rare Momente wurde Herzogs Wunsch nach mehr Unverkrampftheit Realität.
Manchmal tut dem Präsidenten das Zeitunglesen weh. Ja, der Artikel habe Herzog geschmerzt, sagt ein enger Mitarbeiter über einen Aufsatz aus der Zeit, dem Herrenklub der Polit-Berichterstattung. Herzog fühlte sich ungerecht getroffen. Schließlich ist der 110-Kilo-Bayer von Gestus und Gesinnung her nicht nur zivil, er ist auch „civil“. Die „Civil Society“, die Bürgergesellschaft, ist eines seiner zentralen Anliegen. Anstöße will er geben, zum Engagement ermuntern, Menschen ins Gespräch bringen – und sieht sich dabei dem Vorwurf ausgesetzt, unpolitisch zu sein. „Auf seine Weise normal“ war das äußerste Kompliment, das sich in dem ganzseitigen Text fand. „Ein politischer Präsident ist er nicht“, urteilte Bonnkorrespondent Gunter Hofmann kategorisch. „Diese Rhetorik verläuft parallel zur Politik. Sie liegt nicht quer, sie stößt nicht an.“ Hofmann spricht nicht ausdrücklich von Furcht, aber auch er zeichnet Herzog unausgesprochen als ängstlichen Charakter. Der Präsident sage, er wolle Unbequemes sagen. „Aber er sagt das Unbequeme, das die meisten gerne hören.“ Die dunkle Seite der Moderne, die Gefahren des Glaubens an einen ewigen Fortschritt zum Beispiel, übersehe der Aufbruchsprophet Herzog geflissentlich – und sei darum bestenfalls ein „halbierter Präsident“.
Was den Bundespräsidenten pikst, läßt Staatssekretär Wilhelm Staudacher hüpfen. Nicht zuletzt deshalb ist ein Gespräch mit dem Chef des Bundespräsidialamtes eine aufschlußreiche Angelegenheit. Kaum ein anderer verteidigt den Präsidenten so vehement wie eloquent gegen Kritik. Zu Anfang perlt ihm perfekte Polit-PR förmlich von den Lippen: „Der Bundespräsident hat sich an die Spitze einer Bürgerbewegung für Veränderung gestellt.“ Ist Roman Herzog ängstlich? Nein, sagt sein Intimus, aber sicher kopfgesteuert, ein Betrachter der Welt eher als ein Gestalter. Dann wird er energisch: Was hätten sich Herzogkritiker wie Gunter Hofmann eigentlich gewünscht? Daß der Bundespräsident Bonner Politiker angreift? Staudacher antwortet selbst: „Die Politik beschimpfen, das ist doch das Allerleichteste! Dann ist jedermann zufrieden, weil man einen Schuldigen hat, und muß nicht über sich selber nachdenken!“ Kritikrituale seien das – „am Schluß kommt nichts dabei raus, aber wir haben Differenzen bestätigt“.
Wenn man dem Staatssekretär Staudacher so zuhört, beschleicht einen der Verdacht, daß der nachhaltigste Einfluß, den der Präsident hinterlassen hat, womöglich gar nicht draußen im Land zu finden ist. Staudacher spricht davon, wie unter Roman Herzog das Präsidialamt von einer Behörde zu einer Ideenagentur umgebaut wurde. Es fallen Worte wie „Think Tanks“, „Mailing-Aktionen“, „Follow-up-Veranstaltungen“ und „strategische Partnerschaften mit operativ tätigen Stiftungen“. Im Präsidialamt hat der Ruck schon stattgefunden. „Es blieb nie nur bei einer Rede des Bundespräsidenten. Um die Wirkung dessen, was er vermitteln wollte, zu verbessern, haben wir immer versucht den ,Ruck zu organisieren', Kooperationen einzugehen mit Gruppen der Gesellschaft, die die Power hatten, Dinge in Gang zu setzen.“
Wie verkauft man einen Präsidenten? Selbst die Kritiker des Präsidenten zeigen sich überrascht von der Masse an Aktivitäten seines Hauses. Im Präsidialamt sind de facto Politik und Marketing verschmolzen worden. Ein ganzer Schwung neuer „Formate“ wurde entwickelt, die als Plattformen zur Verbreitung präsidialer Ideen fungieren: angefangen bei der Fernseh- Talkshow bis zu Innovationstagen, Existenzgründerwettbewerben und einem „Fest der Ideen“ für „Tüftler aus ganz Deutschland“. Die Anleihen beim Management sind offensichtlich.
Wer um die Schwierigkeit weiß, eine deutsche Behörde zu internen Reformen zu bewegen, kann ermessen, was der umgestylte Apparat wert ist. Man mag die Entwicklung für problematisch halten. Für die Art, wie der deutsche Präsident künftig agiert, könnte das Know-how an politischem Merchandising jedenfalls noch entscheidend sein – lange nachdem der Innovator Roman Herzog in den Ruhestand gegangen ist.
Die Reden des Bundespräsidenten sowie weitere Informationen zu Roman Herzog stehen im Internet unter www.bundespraesident.de
Patrik Schwarz, 28, hat sich als Ethnologe mit politischer Symbolik befaßt. Er ist Redakteur im Inlandsressort der taz.
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