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Königsnarren, Narrenkönige

Von politischer Leidenschaft, Intrige und Verrat im Zentrum der Macht: Shakespeares Königsdramen spielen auch im Schloß Dunsinan bei Belgrad oder in Bonn. Doch verratsrelevante Geheimnisse werden rar. Ein Nachruf auf Spitzel und Spione  ■   Von Christian Semler

Slobo war zwar macht- und geldgeil, aber zur Königswürde fehlte ihm noch ein Quentchen Skrupellosigkeit. Diesen unerläßlichen Charakterzug brachte Miriana Markovic ein, seine liebe Gattin. Eine ganze Weile ging es steil noch oben, aber jetzt, ganz recht, wir befinden uns auf Schloß Dunsinan unweit Novi Beograd, und der Raketenwald rückt näher. Gleich wird verdunkelt, und wir hören Slobo Macbeth klagen: „Out, out brief candle, life is but a walking shadow, a poor player.“ Ungefähr das ist gemeint, wenn wir eine politische Situation als „shakespearehaft“ bezeichnen.

Entgegen dem ersten Anschein sind politische Leidenschaften, sind Intrige und Verrat, sind Aufstieg und Fall höchster Würdenträger nicht nur auf den Balkan beschränkt. Auch auf den sanften Höhenzügen zwischen Saarbrükken und Bonn können wir dergleichen erleben. Daher entspringt es nicht nur historisch-distanziertem Interessse, wenn, gleichsam als Hintergrundmusik zum Zyklus der Volksbühne, jetzt von Macht und Verrat in Shakespeares Königsdramen die Rede sein soll.

Diese Dramen laufen schon seit alters her unter dem Namen „Historien“, einer Gattung, die um die Wende des 17. Jahrhunderts kurz aufblühte, um dann vom Erdboden zu verschwinden. Es sind dies Werke, in der die Zeit der Bürgerkriege, also die englische Katastrophengeschichte des 15. Jahrhunderts, abgehandelt wird, um über das große zeitgenössische politische Thema sprechen zu können: Stabilität und Chaos in den Staatsgeschäften. Für eine kurze Zeitspanne wurde, worauf der Literaturwissenschaftler Robert Weimann überzeugend hingewiesen hat, die Bühne zu einem öffentlichen Diskursraum, in dem der Aufbau wie der drohende Untergang staatlicher Autorität gezeigt werden. Denn in den großen Dramen der Epoche zerfallen die vormals festgefügten Rollen, der König kann zum Narren werden und umgekehrt, die Bedeutung einer Person ist nicht mehr an ihren Platz in der (Bühnen-)Hierarchie gebunden.

Shakespeare hat an diesem Prozeß entscheidenden Anteil. Er hat ihm zwei Zyklen gewidmet, die Lancaster- und die Yorck-Tetralogie, benannt nach den beiden sich bekämpfenden Lagern in den „Rosenkriegen“. Alle acht Stücke des Zyklus sind Jugendwerke des Dramatikers. Er wird aber auch später, unter zunehmend verdüsterter Perspektive, auf den Themenkreis von Macht, Loyalität und Verrat zurückkommen, bis er im „Lear“ seinen furchterregenden Abschluß findet.

Die Historiker belehren uns heute darüber, daß es im elisabethanischen Zeitalter nicht ganz so friedlich, so harmonisch zuging, wie die Zeitgenossen uns glauben machen wollten. In den Pamphleten, in den offiziösen Schriften der Zeit finden wir alle Ingredienzien des „elizabethan world picture“, die Entsprechung der hierarchischen göttlichen Ordnung in der Natur und in der Menschenwelt, vermittelt durch die aus der Antike überlieferten Analogien. Die zwischen dem menschlichen Körper beispielsweise und dem Staat, wobei der Herrscher natürlich die Stelle des Kopfes einnimmt. Oder die zwischen dem Monarchen und der Sonne, die mit ihren Strahlen alles durchdringt. Aber, wie der Shakespeare-Kenner Ulrich Suerbaum schreibt, „die Kehrseite des allgemeinen Ordnungsglaubens ist eine panische Angst vor dem Verfall der Ordnung. Obrigkeiten müssen wachsam sein und den Anfängen wehren. Sie tun es, indem sie mit Inbrunst den Teufel an die Wand malen.“

Überall lauert der Verrat, er ist „infection“, denn, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt, „der Ursprung des Verrats liegt in der Einbildung des Herzens. Und dieses Herz, so vollständig erfüllt von verräterischer Einbildungskraft, bricht sich Bahn in schurkischen und verräterischen Reden und von dort zu schrecklichen und heimtückischen Taten.“ Vorsicht: „Wahrheit und Lüge reisen stets zusammen, aber die Lüge kommt zuerst an, ohne daß man sie an äußeren Zeichen erkennt.“

Der Shakespeare der „Historien“ hat nicht nur die Chroniken, die vom 15. Jahrhundert, von der Zeit der Unordnung handeln, studiert, er ist auch gewitzt in der Problematik von Loyalität und Verrat. Lehrer wie Schüler der Londoner Rechtsschulen, der „law inns“ gehören zu seinem treuen, oft ungebärdigen Publikum. Deshalb kennt er (im Gegensatz zu uns) die Rechtsquellen zur Ahndung des Verrats. Vor allem das berühmte Statut 25, Edward III, st.5, c2 von 1352. Hochverräter ist, wer die bewaffnete Hand gegen den König oder seine nächsten Angehörigen erhebt, wer gegen ihn Krieg führt oder den Feinden des Königs anhängt. Dies im Unterschied zum „petty treason“, der eintritt, wenn ein servant seinen master, eine Ehefrau ihren Ehemann, ein niedriger Kleriker einen höheren erschlägt oder dasselbe einem Richter während der Ausübung seiner Amtsgeschäfte widerfährt. Strafbar ist nicht nur die Tat bzw. der Versuch, sondern schon „to compass or to imagine the King's (the Queen's) death“. Trotz ersten Anscheins ein sehr eingeschränktes Gesetz, denn es bestraft weder lästerliche Reden gegen die Majestät noch den Versuch, sie in ihren Rechten einzuschränken, als Hochverrat. Seit die Tudors mit Heinrich VII. an die Macht gekommen waren, wurde ständig an neuen Gesinnungsparagraphen gebastelt. So beging „erweiterten“ (constructive) Hochverrat auch, wer durch Beleidigungen und dergleichen des Königs Gram hervorrief und dadurch sein Leben verkürzte, ein Tatbestand, von dem Shakespeare in der Yorck-Tetralogie Gebrauch machte. In diesen vier ersten Stücken der „Historien“ wird kräftig drauflos verraten, schließlich geht es um zwei rivalisierende Königsfamilien, und der rechtzeitige Wechsel der Loyalitäten ist überlebensnotwendig. Die Magnaten nehmen für sich das Recht in Anspruch, gegen die königliche Lehnsgewalt zu rebellieren, wie es vor Erlaß des Hochverratsstatuts Eduard III. häufig geschehen war.

Die allgemeine Anarchie im Staate

Verräter dieser Art bedienen sich jetzt biblischer Rechtfertigungen oder rekurrieren auf einen Gewissensentscheid, beides im Vorgriff auf künftige, protestantische Haltungen. Aber das ist nur Tarnung, in Wirklichkeit geht es, wie Shakespeare uns zeigt, um nichts als Machtentfaltung.

Zur Machtgier gesellt sich die Landgier. Magnaten ringen mit Magnaten, Barone mit Baronen um Landbesitz. Die Mächtigen halten sich Privatarmeen, die nur ihnen verpflichtet sind und auch im Bürgerkrieg eingesetzt werden. Diese Verwilderung des alten Lehnswesens nennt man in der englischen Geschichtsschreibung Bastard-Feudalismus. „Rioting“ (Landfriedensbruch) und gewaltsames Eindringen bzw. widerrechtliche Besetzung fremder Grundstücke füllen die Akten der Friedensrichter bis weit in die Tudor-Zeit. Ihnen gesellt sich später die gewaltsame Aneignung von Gemeindeland durch die Feudalen mittels Einhegungen (enclosures) hinzu. Beides zusammen bildet den materiellen Hintergrund der allgemeinen Anarchie im Staate, die Shakespeare so eindringlich schildert, um die Ordnung der Tudor-Zeit in desto hellerem Licht erstrahlen zu lassen.

Welche der Mächtigen in Shakespeares Yorck-Tetralogie auch zu den Waffen greifen, das Lager wechseln und die Majestät verraten, sie bewegen sich doch in der Welt des Feudalismus und rütteln nicht an deren Legitimationsgrundlagen. Genau dies aber ist das Ziel der „minor sort“, des aufrührerischen Pöbels. Bauern- und Handwerkeraufstände erschüttern von John Bulls Erhebung um die Wende des 15. Jahrhunderts bis zur Revolte Jack Cades unter Heinrich VI. die sowieso schon zerrüttete Gesellschaftsordnung. Shakespeare, der Humanist und Lebenskünstler, haßt die aufrührerischen Unterschichten, verspottet sie, nimmt ihren Führern jede Individualität. Aber in diesen minderwertigen Charakteren scheint doch das ganz andere der Revolte durch. Nicht die aufständischen Bauern begehen Verrat an der Krone, sondern die Krone hat die Grundlagen des Gemeinwohls aufgekündigt. „Kein glückliches Leben mehr in England, seit die Edelleute aufkamen“ – intuitiv begreifen Shakespeares plebejische Aufrührer, daß die Welt der Bildung und der Bücher, die sie im Namen der Rückkehr zu den paradiesischen Ursprüngen vernichten wollen, tatsächlich ihre Unterdrückung zementiert. „Wissen ist Macht“ – aber ganz anders, als es die Humanisten meinten.

Zu Shakespeares Lebzeiten wird die englische Gesellschaft von gegeneinander anschlagenden Wellen der Entsakralisierung und des erneuten Versuchs der Heiligung aufgerührt. Darüber wird nicht nur innerhalb der Kirchenhierarchie, sondern auch auf den Straßen Londons gestritten. Und dieser Streit hat unmittelbare Auswirkungen auf den Charakter des Königtums. Wenn der Monarch die Sonne ist, „sol invictus“, dann ist sein Amt geheiligt, dann gehen von seiner schieren Präsenz unbezwingbare Kräfte aus. Wie aber, wenn der natürliche Leib des Monarchen, sein Fühlen und Denken als Mensch, in Widerspruch gerät mit seinem unsterblichen königlichen Körper? Kann er seine Individualität auch jenseits seiner königlichen Rolle behaupten?

Neue Würde in der äußersten Erniedrigung

In Shakespeares Richard II., dem Auftaktwerk der Lancaster-Tetralogie, verzweifelt der König angesichts des Verrats von Henry Bolingbroke, des künftigen Henry IV. „Ihr irrtet Euch die ganze Zeit in mir. Wie Ihr leb' ich von Brot, ich fühle Mangel, ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde. So unterworfen nun, wie könnt Ihr sagen, daß ich König bin“? Richard dankt ab, bleibt aber im geschlossenen Kosmos der königlichen Repräsentation. Er sieht seine Machtentsagung selbst als Verrat. Erst sein später Nachfahr Lear wird in der äußersten Erniedrigung eine neue Würde finden. Damit ist der Bannkreis von Macht und Verrat durchbrochen.

Ein solcher Bannkreis hat auch unser Jahrhundert beherrscht. Die Rede ist von der großen Verratsbewegung, die erst zu den absoluten Gewißheiten der Ideologien hin- und dann wieder von ihnen wegführte. Verrat wurde zuerst geübt an der aus den Fugen geratenen bürgerlichen Welt und ihren Wertvorstellungen. Am Stand des Intellektuellen, am ewigen kraftlosen Prozeß des „Verstehens“ im Gegensatz zum glasklaren „Entweder-Oder“. Es folgt der Eintritt in die Kirche der Gewißheiten. Die wiederum, als ihr Versprechen auf Rettung sich als hohl erweist, verraten wird. Der Verrat im 20. Jahrhundert gewinnt Evidenz nur in dieser Doppelgestalt.

Heute lesen wir diese Geschichtserzählung mit ebenso großer Bewegung wie Distanz. Die weltumspannenden ideologischen Glaubensgemeinschaften haben sich fürs erste verabschiedet. Kein fortschrittlicher Spion wird heute um des Friedens willen die neueste Raketentechnik der jeweils schwächeren Macht verraten. Geheimnisse wie Geheimnisträger werden rar. Sollte man wenigstens sich selbst gegenüber loyal sein? Gilt noch die Idee einer durchgehaltenen Identität im Lebenszyklus, oder zählen nur noch immerwährender Abbruch und Neuanfang? Vielleicht sollten wir noch mal bei Shakespeare nachschlagen. Aber Vorsicht: Nicht nur wir lesen Shakespeare, Shakespeare liest auch uns!

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