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Kein Anschluß unter diesem Ich

■ Der Krieg geht so lange zum Schirrmacher, bis er bricht

Er hat es wieder getan. Er sollte doch nicht mehr. Frank Schirrmacher hat wieder geschrieben – in seiner FAZ, am 22. Mai. Zwei Spalten. Er sollte sich doch unterstehen. Jetzt sollen wir das alles verstehen.

Frank „kirre“ Schirrmacher zieht „die Lehre des Krieges“ und befindet, das humanitäre Bombardement Serbiens müsse „als Bildungsroman“ gelesen werden.

Was ist ein Bildungsroman? Goethes „Wilhelm Meister“ zum Beispiel. Wo nehmen Frank Schirrmachers Überlegungen ihren Ausgang? Im eigenen Hirnknäuel vermutlich. Bzw. bei der Meldung, das Pentagon habe jüngst Hitlers „strategische Erfahrungen“ betr. Balkan studiert. „Ohne Zweifel hat das Pentagon recht, das Studium vergangener Feldzüge ist Praxis in allen Armeen der Welt.“ Angriffskriege heißen heuer Feldzüge, das schnallen wir.

Klüger wäre es gewesen, fährt Schirrmacher fort, hätte die US-Army Titos Partisanentruppe zum Vorbild erkoren, damit wir uns „als Schüler jener Schwachen“ verstehen könnten, „die, wie die Rebellen in ,Star Wars', am Ende den Sieg davontragen“.

Hingegen Joe Fischer, Hitlers mittelbarer Deszendent, „diese ästhetisch-moralisch geprägte Rollensehnsucht [...] als erster [...] produktiv“ machte, indem er seinen Weggenossen auf dem Sonderparteitag vom 12. Mai die Taktiken der Stadtguerilla herunterdeklinierte, Tito und Mao verband und fürderhin gerufen wird: Timo Fischer; oder Joe „Stalin“ Mito – wie Milotinovic; resp. Slobo „Ti amo“ Miloevic.

„Die große List des Außenministers zu würdigen“, singt Schirrmacher: „Ihm gelingt es nicht nur durch die Aussendung des kaum verschlüsselten Signals, die Nato zur Hilfstruppe einer Guerilla zu machen. Er heilt den biographischen Riß, der durch die Lebensläufe seines Publikums geht.“ Die größte Kriegslist des größten Außenministers aller Zeiten: im Parteitagsgetümmel die leibeigenen Knallchargen mit dem Geschrumpel und Gerumpel Schirrmachers zu betören: „Plötzlich geht der Legendenschein Che Guevaras und die Fisch-im-Wasser-Lehre aus der Mao-Bibel über den Verteidigern des Krieges auf, und der Mai 1999 macht wahr, was der Mai 1968 erträumte. Es ist das Schlußkapitel eines Bildungsromans.“ Und das unterm Stern des Goethejahrs. Glänzend.

Freilich, Schirrmacher hat noch einen langen Marsch in die Katakomben der „Welthirnjauche“ (Karl Kraus) vor sich. „ Das Pentagon und die Rhetorik Fischers – das sind nur zwei Beispiele für den ungeheuer didaktischen Charakter, den der gegenwärtige Krieg von Anfang an genommen hatte.“ Hm. „Ungeheuer“ mußte schon sein, d'accord. Aber „didaktisch“? Der Krieg – die Mutter aller Matheschüler? „Dieses Gefühl, im Jahre 1999 am Ende einer schwierigen Lektion angelangt zu sein, gleichsam wie nach dem Kapitel Integralrechnung im Mathematikbuch, äußert sich durch nichts weniger als durch die Beiträge der Schriftsteller und Intellektuellen“, deren abgeschlossene Bildungsromane Schirrmacher nun – so ein Zeitungstext hat seine Längen, da kann man die „Leitmotive“ durchaus mal verwechseln – für zwo Seiten Integralrechnung gelten, wahrscheinlich i.S. der Integrität des bürgerlichen Helden, der, auf der Suche nach dem Ich, Europa und die Welt erfindet und erobert: „Es ist diese fast motivationspsychologische Idee, die alles in diesem letzten Jahr des Jahrhunderts begleitet und die den gegenwärtigen Krieg fundamental von allen vorangegangenen unterscheidet. Es geht für Europa diesmal nicht darum, an ein Ich anzuschließen, das es einmal hatte oder sich auch nur, wie in Hitlers Geschichtsklitterei, fingierte.“ Ahem –: Wenn Fiktionen, vulgo Romane, fingieren, war Hitler dann der Erbe des europäischen Ich, wie es Goethe projektiert hatte? Und wäre Goethe Hitler geworden oder immerhin Braunjacke?

Was lernen wir aus Schirrmacher? Daß der Schrumpfsinn in Zeiten der unheiligen Arschfaltigkeit einen schlechthin überrragenden Dutzenddreck an Obszönität generiert? „Die Didaktik des Krieges“, sinnt Schirrmacher, „suggeriert, daß Europa geprüft wird.“ Und mein Nervensystem auf Herz und Nieren. „Anders als die Kriege, die das Pentagon studiert, war der geistige Waffendienst des Jahrhunderts fast immer einer, der den totalen Sieg bei geringsten Verlusten evozierte.“ Wer muß noch mal die Grundschulbank drücken? Hilft mir denn niemand?

„Jenseits des humanitären Prinzips spricht nichts dafür“, endet Schirrmacher, „daß er (der Kosovo-Krieg) als Teil fürs Ganze, als repräsentativer Endkrieg des Jahrhunderts gelesen werden müßte.“

Lektüre hin und zurück: Frankyboy spinnt. Er ist verrückt geworden. Niemand kann ihm helfen. Selbst der Ratschlag, Schirrmacher solle auf dem Bombenteppich bleiben, vermag ihm keine Rettung mehr zu sein. Jürgen Roth

Abgeschlossene Bildungsromane und ein Kapitel Integralrechnung: der Krieg, Mutter aller Matheschüler?

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