: Viele Fragezeichen und ein Todesfall
Vor über einem halben Jahr wurde der Hacker „Tron“ tot in Berlin aufgefunden. Nun stehen die polizeilichen Ermittlungen kurz vor dem Abschluß. Nur, die Eltern, Freunde und der Chaos Computer Club glauben nicht, daß „Tron“ Selbstmord begangen hat ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Er hatte eine „Wunderkarte“ erfunden. Eine Karte, mit der man unbegrenzt kostenlos telefonieren kann. Wenige Jahre später entwikkelte er in seiner Diplomarbeit ein Gerät, das komplette ISDN-Kommunikationen günstiger verschlüsselt als andere Apparate. Solche Qualitäten, die ein Vermögen wert sind, sind gefragt – sowohl bei Geheimdiensten als auch bei Verbrechersyndikaten. Die einen interessieren Paßwörter und Programme von Militärs, Raumfahrt- und Rüstungsfirmen, die anderen Millionengewinne. Treffen sich Computerfreaks zu ihrem jährlichen Kongreß, werden Agenturen beauftragt, für Firmen herauszufinden, wer was gehackt hat.
Auf diesem gefährlichen Terrain bewegte sich Boris F., einer der fähigsten Chipkarten-Hacker Europas. Der 26jährige mit dem Spitznamen „Tron“, wurde am 22. Oktober vergangenen Jahres erhängt in einem Park in Berlin Neukölln gefunden. Jetzt, nach sieben Monaten, steht die Polizei kurz davor, die Akte zu schließen. Das vorläufige Ergebnis: Suizid.
Doch die Eltern des Computerspezialisten und Freunde vom Chaos Computer Club (CCC), dem er sich angeschlossen hatte, nachdem er bei der Entwicklung seiner „Wunderkarte“ die Grenzen der Legalität überschritten hatte, sind überzeugt, daß er nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Zu seltsam erscheinen ihnen die Todesumstände.
Als Boris F., der bei seiner Mutter lebte, am 17. Oktober von einem kurzen Spaziergang nicht zurückkam, war für sie und den getrennt lebenden Vater klar, daß etwas passiert sein mußte. Ungewöhnlich war auch, daß der Sohn seinen Laptop, den er bei längerer Abwesenheit immer mitnahm, zu Hause gelassen hatte. Nachdem die Eltern den ganzen Nachmittag und Abend vergeblich versucht hatten, ihn über sein Handy zu erreichen, gingen sie am nächsten Tag zur Polizei. Trotz ihrer vorgebrachten Befürchtungen, ihr Sohn könne aufgrund seiner Hackerfähigkeiten entführt worden sein, mußten sie einen weiteren Tag verstreichen lassen, bis sie eine Vermißtenanzeige aufgeben konnten. Erst nach Ablauf der 48-Stunden-Frist nahm die Polizei den Fall auf. Drei Tage später übernahm die Dritte Mordkommission die Ermittlungen. Und einen Tag später wurde Boris F., erhängt mit seinem eigenen Gürtel, gefunden. Vermutlicher Todeszeitpunkt: etwa 24 Stunden zuvor.
„Die Polizei hätte ihn vor Ablauf der 48 Stunden suchen müssen“, sagt der Anwalt der Familie, Wilfried Nacke. Liegen begründete Hinweise auf ein Verbrechen vor, kann auch bei Volljährigen vor Verstreichen dieser Frist eine Vermißtenanzeige aufgegeben werden. Doch in diesem Fall schienen der Polizei die Befürchtungen der Eltern unbegründet. „Die Hinweise der Eltern wurden belächelt“, sagte Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club im Dezember auf dem jährlichen Hackerkongreß in Berlin, der „Tron“ gewidmet wurde. Anwalt Nacke kritisiert außerdem, daß die Polizei, statt sich auf die Suche nach dem Verschwundenen zu machen, seinen Computer beschlagnahmte.
Zumindest am Anfang, als die Mordkommission mit ihren Ermittlungen begann, nahm sie den Verdacht der Eltern ernst und konzentrierte sich nach Angaben des Leiters der Dritten Mordkommission, Klaus Ruckschnat, auf den Verdacht der Geiselnahme. „Ein solches Genie hat auch immer Feinde“, so Ruckschnat. Trotzdem glaubten die Ermittler nach zwei Wochen, ein Selbstmordmotiv gefunden zu haben. Boris F. war kurz vor seinem Tod gemustert worden, ein Tauglichkeitsbescheid lag vor. Nach Angaben von Freunden soll er panische Angst vor der Einberufung gehabt haben – eine Vermutung, die nie bestätigt wurde.
Die Eltern von Boris F., der in der kroatischen Heimat des Vaters beigesetzt wurde, sind überzeugt, daß ihr Sohn noch leben könnte, wenn die Polizei ihren Hinweisen sofort nachgegangen wäre. Während andere in der Szene für 10.000 Mark ihre Seele verkaufen würden, sei Boris F., dessen Wissen „dreistellige Millionenbeträge“ wert sei, nicht käuflich gewesen. „Das ist ihm zum Verhängnis geworden“, so Nacke. Nach Angaben des CCC gab es kurz vor dem Verschwinden von Boris F. mehrere Anwerbeversuche. Doch Beweise, daß Boris F. nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist, hat weder der Anwalt noch der CCC. Nur Anhaltspunkte und Vermutungen, die nicht von der Hand zu weisen, jedoch schwer zu beweisen sind.
Chefermittler Ruckschnat weiß, daß die Eltern das Ermittlungsergebnis Suizid nicht akzeptieren werden. „Da kommen wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner“, sagt er. Er verstehe zwar ihre Zweifel, doch für ihn gehe es um die Frage „Liegt ein Tötungsdelikt vor oder nicht?“ Nach sieben Monaten steht für ihn fest: „Das Obduktionsergebnis ist unumstößlich. Es liegen keine Hinweise auf ein Tötungsdelikt vor.“ Ermittlungen in „jedwede Richtung“ hätten „keinen vernünftigen Ansatz für einen Mord“ ergeben. Zumindest nichts Nachweisbares, nichts Nachvollziehbares, nichts Haltbares. Die Angaben des Chaos Computer Clubs, man hätte Boris F. über sein Handy, das bis zum zweiten Tag seines Verschwindens eingeschaltet war, orten können, weist er zurück. Das Handy habe zwar an einigen Standorten angesprochen, doch dabei habe es sich um Anrufe der Eltern und von Freunden gehandelt, die vergeblich versuchten, ihn zu erreichen. Eine Ortung sei unmöglich gewesen wegen der vielen Hochhäuser in dem Neubaugebiet Gropiusstadt, wo sich Boris F. höchstwahrscheinlich in den vier Tagen vor seinem Tod aufgehalten hat. Wenn jemand das Gegenteil behaupte, handele es sich um eine „Theorie ohne reellen Hintergrund“.
Theorien spielen eine wichtige Rolle in diesem Fall. Auf dem CCC-Kongreß wurden Zweifel laut, daß es sich bei dem Beigesetzten, der von seinem Vater identifiziert wurde, nicht um Boris F. handelt. Auch von nicht nachweisbaren Drogen war die Rede. Und der Umstand, daß der Aufenthaltsort von Boris F. in den Tagen vor seinem Tod nach wie vor unklar ist und es keinerlei Erkenntnisse darüber gibt, mit wem er sich getroffen hat, trägt auch nicht gerade dazu bei, an einen Selbstmord zu glauben. Die 500 Mark, die er am Tag seines Verschwindens mit der EC-Karte seiner Großmutter abgehoben hatte, für die er regelmäßig Geld abholte, hatte er noch bei sich, als er gefunden wurde. Chef-ermittler Ruckschnat räumt zwar ein, daß es „das perfekte Verbrechen“ gebe und es vorstellbar sei, daß Boris F. mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, seinem Leben ein Ende zu bereiten. „Doch“, so Ruckschnat, „das wäre nicht nachweisbar.“
Während die Polizei kurz davor steht, den Fall zu den Akten zu legen, sind die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach Angaben von Justizsprecher Matthias Rebentisch noch nicht abgeschlossen. Obwohl auch die Staatsanwaltschaft bisher keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden habe, würden sich die Ermittlungen mit Sicherheit noch einige Wochen hinziehen. Der Chaos Computer Club, der auf eigene Faust recherchiert, hüllt sich derzeit in vielsagendes Schweigen.
Vielleicht gibt es ja wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, die nie wirklich aufgeklärt werden. Der Tod von Boris F. könnte dazugehören. Mittlerweile glaubt auch Anwalt Nacke, daß der „Fall Tron“ einer mit offenen Fragen bleiben wird. Doch er gibt die Hoffnung nicht auf. „Der Mord an John F. Kennedy ist bis zum heutigen Tag auch nicht vernünftig aufgeklärt“, sagt er.
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