Therapie statt Befreiungsutopien

■ Derzeit befinden sich 720.000 Deutsche bei einem Psychotherapeuten in Behandlung. Weil es Dutzende von Therapierichtungen gibt, hat der Patient die Qual der Wahl

Rund 720.000 Deutsche sind zur Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Doch bis zu vier Millionen Menschen benötigten tatsächlich eine psychologische Betreuung, schätzte die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie Ende April. Die Zahl der psychisch Kranken sei in den letzten Jahren zwar nicht gestiegen, aber immer mehr Menschen werde bewußt, daß viele – und vor allem chronische – Krankheiten seelische Ursachen haben können.

„Therapie statt Politik“ heiße die neue Losung, erklärt dagegen die Psychologin Eva Jaeggi eine Art Psychoboom, der die gesellschaftlicher Befreiungsutopien abgelöst hat. Sicher ist allenfalls, daß Millionen Menschen um persönliche Veränderung kämpfen und der Patient die Qual der Wahl hat: Wer sich heutzutage in psychotherapeutische Behandlung begeben möchte, muß sich zuerst einmal zwischen Dutzenden von Therapierichtungen entscheiden.

In Deutschland sind zwar die Verhaltenstherapie und die Psychoanalyse die zwei herrschenden Schulen, und sie allein werden gemeinsam mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als von den Krankenkassen getragene „Richtlinienverfahren“ anerkannt. In der Praxis haben sich aber inzwischen auch andere Ansätze bewährt. Am 31. Mai soll der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen nun auch über die Wissenschaftlichkeit der Gesprächstherapie urteilen. Doch obwohl viele sie für ein hervorragendes Verfahren halten, sieht es nicht danach aus, daß sich der Ausschuß zu einer Anerkennung durchringen wird – denn neue Verfahren schaffen auch neue Konkurrenz.

Dabei behandeln viele Psychotherapeuten ohnehin längst methodenübergreifend. „Sie verbinden Elemente verschiedener Therapieformen in einem Gesamtkonzept der Behandlung. Ergebnisse aus der neusten wissenschaftlichen Forschung bestätigen dieser Behandlungsstrategie gute Erfolge“, heißt es dazu in dem Heftchen „Wegweiser zur Psychotherapie“ des Bundes Deutscher Psychologen (BDP).

Da es auf dem expandierenden Psychomarkt viele Scharlatane gebe, sei nicht die Frage nach der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit der einzelnen Therapierichtung entscheidend als vielmehr nach der Seriösität des Therapeuten, sagt der Berliner Psychotherapeut Ulfried Geuter. In der psychotherapetischen Forschung heiße es „einhellig“, daß die Beziehung zwischen Therapeut und Patient „das Wichtigste“ sei – die sogenannte „Passung“ zwischen beiden müsse stimmen. Der Patient muß sich mit der gewählten Methode anfreunden können, so Geuter. „Achten Sie auf Ihre innere Stimme“, empfiehlt der BDP-Wegweiser ganz lapidar. „Stellt sich in den ersten Sitzungen kein Vertrauensverhältnis ein, sollten sie einen anderen Psychotherapeuten aufsuchen.“

Der „Wegweiser zur Psychotherapie“ ist gegen die Einsendung eines frankierten Rückumschlages (2,20 Mark) bei der BDP-Bundesgeschäftsstelle, Heilsbachstr. 22-24, 51234 Bonn, erhältlich. Einen ausführlichen Einblick in 120 Therapierichtungen gibt das „Kursbuch Seele“, hrsg. von Krista Federspiel u.a., Kiepenhauer & Witsch, Köln 1996, 544 S., 58 Mark. Auch das Buch „So finden Sie den richtigen Therapeuten“ von Paul Hiß hilft bei der Wahl des geeigneten Behandlers, Campus, Frankfurt/NY 1998, 224S., 29,80 Mark