: Dei ex camera
Das Unsichtbare ist im Handstreich nicht zu kolonialisieren. Die Erste Phototriennale Hamburg mit dem Titel „Wohin kein Auge reicht. Von der Entdeckung des Unsichtbaren“ pflegt populäre Gerüchte um „das Medium“ Fotografie. Eine Polemik ■ von Ulf Erdmann Ziegler
Es macht ein unaufhaltsames Gerücht die Runde, daß Fotografie das Medium der Stunde sei. In Berlin planen die Staatlichen Museen die Gründung eines Fotomuseums – nicht zum Beispiel ein Museum der technischen Bilder. Eine seit einigen Jahren mit Aufwand produzierte Sammlung, die der DG Bank in Frankfurt, stellte im Frühjahr einen opulenten Katalog vor: „Das Versprechen der Fotografie“. Und Hamburg begründet in diesem Jahr eine „Phototriennale“, soeben eingeläutet mit umfangreichen Ausstellungen in den Kunst- und Deichtorhallen.
Die Stadt Hamburg hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, auf die Triennale in Gründung mit nennenswerten Fördermitteln einzusteigen. Die großen Verlage am Ort hielten sich vornehm zurück, bis die Sache schon fast gescheitert war: der Umtrunk in der Popseventies-Kantine des Spiegel – zur Eröffnung der Deichtorhallen – war ein Manöver im letzten Moment, um nicht im Falle des Erfolgs als gänzlich uninteressiert dazustehen.
Initiiert hat die ganze Sache der seit Jahren aktive Arbeitskreis für Photographie, dessen Mentor und Repräsentant F. C. Gundlach ist, ein einflußreicher Modefotograf in den fünfziger und sechziger Jahren, ein Unternehmensgründer (PPS.), über Jahre ein eigensinniger und kenntnisreicher Galerist, ein umtriebiger Sammler sowieso. Er und Wilhelm Schürmann – der um zwanzig Jahre jüngere Kunstsammler aus Herzogenrath – haben in der Deichtorhalle eine Ausstellung zusammengetragen, die als Leitmotiv des fotografischen Sommerfestivals gelten kann: „Wohin kein Auge reicht. Von der Entdeckung des Unsichtbaren“.
Wer im Jahr zuvor Schürmanns Ausstellung „Someone else with my fingerprints“ im Hamburger Kunsthaus gesehen hat, konnte sich vorstellen, wohin die Reise geht. Schürmanns Mission ist, daß er sich fotografische Quellen greift, die in einem Punkt zum Namenskatalog der DG Bank konträr stehen: Sie können teuer oder billig, monumental oder flüchtig sein. Gemeint ist ein alles ergreifender Gedanke, eine Art marodierender visueller Essayismus, der Pressefotos, anonyme Filmstills, bildjournalistische Bonmots, fotografische Serien zueinander stellt – sichtlich stolz auf die Brillanz des eigenen Gedankens, der aus Regelverletzung gewonnen sein soll.
Während die DG Bank ihre Fotografie mit dem Kunstvorbehalt versiegelt, melden Schürmann und Gundlach den Anspruch an, Quellenmaterial im „Kunstkontext“ neu sichtbar zu machen.
Die Ausstellungsmacher deklarieren nicht explizit, welche Themen sie erschließen wollen, aber man ahnt: Es geht hier um die Folgen nuklearer Kriegsführung, dort um das Bild des Politikers und an anderer Stelle um die Ästhetik der Filmproduktion.
Der wichtigste Block der Ausstellung besteht aus einer Serie schwarzweißer Porträts. Es sind Asiaten, die auf den ersten Blick nur verbindet, daß sie alle eine Nummer um den Hals tragen, junge Frauen, Männer, Kinder. Manche sind in Handschellen, manche geschlagen worden. Manche sehen ihren Folterern in die Augen, manche einem Fotografen, den sie nicht fürchten. Es sind Bilder aus einem kambodschanischen politischen Gefängnis der siebziger Jahre, deren Negative irgendwann gefunden und in Kalifornien geprintet und publiziert wurden. Wirklich erstaunlich ist, daß die Porträts nur teilweise vor neutralen Hintergründen gemacht sind und deshalb, mit flirrenden Perspektiven, wie aufwendig komponierte Porträts aussehen oder es vielleicht sogar sind.
Die „Killing Fields“ betitelte Serie zeigt präzise, daß es möglich ist, einen abgründigen dokumentarischen Kontext zu transzendieren. Die Porträts werden nicht Kunst, aber man kann sie einordnen in Erfahrungen mit anderen intensiven Porträts (Bacon, Arbus, Sander).
Die Kuratoren wollen weit über das Ziel hinaus, Quellenfotografien neu sichtbar zu machen. Sie bestehen darauf, diese mit fotografischer Kunst zu vergleichen, wenn sie zum Beispiel Thomas Demands artifizelles Interieur eines Badezimmers ( „Beaurivage“) mit bildjournalistischen Politikerporträts gegenüberhängen. Damit wird Demands Arbeit eine Konkretion zugemutet, die sie mit äußerstem Aufwand tunlichst vermeidet.
Ist die Kunst aber erst einmal zum Quellenmaterial banalisiert, fragt sich natürlich, ob denn tatsächlich etwas spezifisch Fotografisches die Kunst, den Bildjournalismus, das Filmstill und die Fotografie der Biologen verbindet. Das kann man im Laufe der Ausstellung nur negieren. Spätestens wenn dann in eine Vitrine zum Thema Voyeurismus eine haarsträubende Bildzeitungsseite gelegt wird (“Fotoüberfall: So erwischte eine Frau ihren Mann im Büro“), fragt man sich, ob die Kuratoren nicht dem Zauberlehrlingsproblem aufgesessen sind. Die Sache ist grenzenlos, und weil sie ernst ist, erscheint sie als durch und durch hybrid.
Nun wäre dies vielleicht im Stillen beizulegen, käme die Idee von Novizen des Betriebs, die es an entlegenem Ort einmal radikal versucht haben wollen. Aber nicht nur F. C. Gundlach, auch Wilhelm Schürmann hat eine Vorgeschichte als Fotograf; als strenger, aber einfallsreicher Dokumentarist deutscher und belgischer Wohn- und Gewerbelandschaften. Er ist seit langem Hochschullehrer. Als Sammler folgt Schürmann, anders als Gundlach, nicht der Fotografie, sondern hat seine „Dirty Data“ (Titel eines Sammlungskatalogs) erweitert um eine museumskritische Kommentarkunst, unterlegt von jener gezielten Vulgarität, die aus dem amerikanischen Protestantismus stammt.
Es geht also um eine Ausstellung, die als Kernstück einer Triennale von zwei Kennern der Fotografie installiert wurde. Sie haben sich gezielt von der Werkästhetik der Fotografen/Künstler abgewandt, um selbst als dei ex camera den Diskurs zu bestimmen. Komplettiert wird ihre Unternehmung durch eine Ausstellung des Deichtorhallendirektors Zdenek Felix zur „digitalen Fotografie“, was manipulierte Kunstfotografie meint. So kommt man wieder heraus beim großen Staunen der „Weltausstellungen“, einem anonymen Gedanken von Fortschritt, der keine Handschrift trägt, weil er prinzipiell als technisch gedacht wird.
Der Hauptweg zur Werkanalyse wäre die monographische Ausstellung. Da haben wir im Altonaer Museum eine kleine Werkschau des regionalen Fotografenmeisters Emil Puls, mit einer köstlichen Elf-Bilder-Reportage über die Jugendstrafanstalt Hahnöfer Sand, datiert 1924/25. In der großen Deichtorhalle, den Rundgang durch die Wunder der Welt komplettierend, finden wir eine Übersicht der Motive des New Yorker Stadtreporters Arthur Fellig, der sich anfangs Weegee und später Weegee the Famous nannte. Es ist keine echte Werkschau. Dazu fehlen erstens die Prints aus seiner Werkstatt – Weegee war ein spontaner Laborant! –, zweitens natürlich die Zeitungen, in denen seine Bilder veröffentlicht waren. Die Besessenheit des Fotografen von einem Metropolenleben, das er, der Emigrant, sich als wild, hart und tragisch vorstellte, teilt sich zwar auch in einer Wüste standardisiert vergrößerter Leihprints mit. Aber ob Weegee ein genialer Naiver war oder ein kompromittierter Wahnsinniger, läßt sich aus dieser Art der bereinigten Präsentation nicht entnehmen.
Wenn den Deutschen nach Grandeur zumute ist, kommen sie nie auf São Paulo oder Mailand oder Hongkong. New York muß es sein. Also bekommt der Stadtreporter Weegee in der Kunsthalle „Andy Warhol: Photography“ zur Seite gestellt. Anders als die Weegee-Ausstellung jedoch ist die über Warhol gründlich konzipiert und mit entscheidenden Leihgaben ausgestattet. Gezeigt werden Fotos, auf denen Warhol zu sehen ist, und zwar (endlich!) geordnet nach Fotografen. Man sieht in Vitrinen wichtige Vorlagen der „Disaster“, auch das schwarzweiße PR-Foto des elektrischen Stuhls in New York, auf dem die Rosenbergs sterben sollten.
Seine Polaroidarbeit wird angemessen gewürdigt, auch die von Neugier entzündeten „Sex Parts“; die Automatenporträts der Sechziger; die späten handgenähten Vierfachmotive; schließlich kommt Warhol als Gesellschaftsknipser vor und in einer großflächigen Projektion laufen einige Filme, deren fotografische Ästhetik zur Debatte steht.
Natürlich spielen in einer solchen Ausstellung auch „echte“ Fotografen eine Rolle, Meister der visuellen Kommunikation wie Richard Avedon und Cecil Beaton; Fotografen, die ihr Auge an der Factory geschult haben (wie der Deutsche Timm Rautert und der Engländer David McCabe); und Leute aus der Factory, deren fotografisches Werk sich auf die Factory beschränkt, wie Billy Name.
Nur, daß die KunsthistorikerInnen der Kunsthalle von Fotografie so gut wie nichts verstehen. In den „biographischen Notizen“ des Katalogs zu sechzehn Fotografen zum Beispiel „photographiert“ Oliviero Toscani „seit 1982“ für Benetton – der Mann ist bei dem Konzern Art Director und Kopf sämtlicher (umstrittener) Kampagnen.
In Robert Mapplethorpes „photographischem Schaffen verbinden sich eine formale, gelassene und zeitlose Ästhetik mit den dunkleren Unterströmungen von Sexualität und Glamour“ – als wenn Mapplethorpe nicht alles daran gesetzt hätte, seine s/m-geleitete Homosexualität zum Skandal zu machen.
Und Stephen Shore, der vor 25 Jahren mit seinen intensiven Stadtlandschaften des kleinstädtischen Amerika fotografische Geschichte schrieb, ist der Kunsthalle mit einer angeblichen „epochenübergreifenden Darstellung naturgeschichtlicher Phänomene und geologischer Formationen“ bekannt. Die Anschaffung der „Encyclopedia of Contemporary Photographers“ ist zu empfehlen.
Die Ausstellung „Andy Warhol: Photography“ lebt übrigens nur bedingt von Fotografien im engeren Sinne, sondern vor allem aus deren Gegenüberstellung mit seinen zwar bekannten, aber doch immer wieder erstaunlich frischen Leinwandsiebdrucken, in denen die fotografischen Motive – gehärtet, gefroren – mit gedruckter oder gepinselter Farbe flackernd illuminiert werden. Der Kernpunkt der Ausstellung ist nicht ein fotografisches Werk, sondern ein malerisches Werk, das sich auf mehr oder weniger anonyme einzelne Fotografien bezieht. Letztlich gehen die Inspirationen des Gundlach/Schürmann-Teams auch auf Warhol zurück: auf die Idee, das moderne Gaffen als Ausdruck einer demokratischen Banalität zu feiern.
Wenn man allerdings die Fotografien von Autounglücken sieht, die in den fünfziger Jahren noch in Zeitungen gedruckt wurden, erkennt man in der gegenwärtigen Praxis doch – allen übertriebenen Selbstanklagen der „Mediengesellschaft“ zum Trotz – eine Disziplinierung der Schauenden durch die Schauenden. Ein geplatzter Kopf hinter einer geborstenen Scheibe ist eine Obszönität, weil der Blick anonym ist, ohne Sinn und Verstand. Einen graurosa Hoden im Blitzlicht kann man „verstehen“, weil die fotografische Autorschaft (in diesem Fall Warhols) durchscheint.
Es ist in Ordnung, die angewandte, mediale und anonyme Fotografie zu soziologisieren. Aber man darf nicht vergessen, daß dies den bildenden Künstlern besser gelungen ist als den Soziologen selbst. Insofern bleibt die Werkschau der beste Scheinwerfer auf die ästhetischen Bedingungen, mit denen wir uns eingerichtet haben und von denen wir uns wieder lösen. Künstlerische Werke einer Soziologie des Auges zu unterwerfen, heißt sie ihrer ethischen Vitalität zu berauben. Das „Unsichtbare“ ist im Handstreich nicht zu kolonialisieren.
Erste Triennale der Photographie in Hamburg 1999: „Wohin kein Auge reicht“ (Katalog 39 DM), Digitale Photographie, Weegee – Tage und Nächte in New York, Deichtorhallen, bis 5. 9.; „Andy Warhol: Photography“, Kunsthalle, bis 22. 8. (Katalog 39 DM); „Emil Puls, Ein Fotograf aus Altona“, Altonaer Museum, bis 11. 6. Mehr als 30 weitere Ausstellungen und Symposien im Laufe des Sommers.
So kommt man wieder heraus beim technisch gedachten großen Weltausstellungsstaunen
Wenn den Deutschen nach Grandeur ist, dann kommen sie nicht auf Mailand. New York muß es sein
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