: Zeit, sich umzusehen
■ Eben eine Frage der Einstellung. Schöne Momente dürfen auch mal länger stehenbleiben. Angela Schanelecs „Plätze in Städten“
Mimmi hat feine Gesichtszüge und einen so sensiblen Gang, daß man sie sich direkt als Cellistin vorstellen könnte. Zum Glück tanzt sie lieber im Hallenbad zu Joni Mitchell. Und das beste ist: Sie weiß nicht einmal, daß der alte Kassettenrekorder am Beckenrand „California“ spielt. Und daß Joni-Mitchell-Hören im Moment wieder sehr modern ist. Hinter den beschlagenen Scheiben sieht man Grünflächen mit viel Erdtönen drin, Winternebel, Wohnblocks. Berlin.
Möglicherweise erzählt Angela Schanelecs Film „Plätze in Städten“ davon, wie Mimmi von hier weggeht, um in Paris ihr eigenes, privates Kalifornien zu suchen. Aber erstmal ist sie nur auf Abifahrt und sitzt in der Metro einem Mann gegenüber. Als er aussteigt, folgt sie ihm bis nach Hause und verbringt die Nacht mit ihm. Möglicherweise ist die Geschichte aber auch gar nicht so wichtig. Ein Bild führt zwar zum nächsten, doch nicht nur, weil die Handlung es so will. Schöne Momente dürfen auch mal so stehenbleiben und eine Weile nachschwingen. Einmal macht Mimmi sich ein Müsli und summt dabei vergnügt. Die Szene dauert so lange, wie es eben dauert, sich ein Müsli zu machen. Währenddessen hat man genug Zeit, sich bei ihr umzusehen. Die Kamera hält fast jede Situation sehr lange fest, und so sieht man immer ein wenig mehr von Mimmi und ihrer Umgebung, als der Film zeigen will.
Nie kommt die Kamera den Figuren zu nahe – statt Close-ups abwartendes Verharren im halbnahen Bereich. Ein ganzer Film aus der Halbtotalen. Dabei guckt die Kamera mit geradezu fassbinderscher Halsstarrigkeit stur geradeaus. Es scheint ihr ganz egal zu sein, ob im Off gerade etwas Wichtigeres passiert. Dagegen hat sie alle Zeit der Welt für das, was sie im Moment interessiert. Zum Beispiel, wie Mimmi Brot schneidet – wobei der Schneidevorgang selbst gar nicht im Bild ist. Oder wie Mimmi mit ihrem Fahrlehrer im Bett liegt, zwei Minuten lang, unbewegt, ungeschnitten. Es ist eben alles eine Frage der Einstellung.
So dauert es seine Zeit – nämlich zwei Stunden – bis alles erzählt ist. Zwei Stunden, sagt Angela Schanelec, seien aber eine sehr kurze Zeit, um einen Menschen kennenzulernen. Und dabei sei es wichtiger, Mimmi verstehen zu wollen, als sie zu verstehen. Die Kamera ist daher Zuschauerin, nie Akteurin. Kamerafahrten finden nicht statt, dafür Fahrten mit Auto, Bus und U-Bahn. Mimmi kommt herum. Zu Hause in Berlin merkt sie, daß sie schwanger ist und trampt zurück nach Paris.
Der Titel „Plätze in Städten“ läßt zunächst eher eine Reminiszenz an Alexander Kluges „Brutalität aus Stein“ vermuten als einen klugen Film aus der Halbdistanz über das Leben einer jungen Frau in zwei Städten. Wenn man mit Schanelecs Blick auf sie schaut, fragt man sich, wieso hier so leicht gelingt, was anderswo so inszeniert wirkt: Alltäglichkeit zu zeigen. Manchmal ist sie grau wie Beton, manchmal auch hellgrün wie die Kacheln in Mimmis Bad.
Wenn der Film vorbei ist, sind wir ein paar Mal mit Mimmi durch die Straßen gezogen und an eher trostlosen Plätzen vorbeigekommen. „Plätze in Städten“ interessiert sich sehr für die Anatomie einfacher Orte und registriert jede noch so kleine Bewegung und Farbveränderung. Es dominieren Farben, die fast schlotternd kalt sind. Treppenhäuser, Bushaltestellen, Fußgängerbrücken wirken wie unter Wasser fotografiert. Im Gegensatz zu Straßen, die ja nur Verbindungslinien sind, haben die Plätze aber ein Eigenleben und ein Gesicht.
Um an ein Gesicht wie das von Sophie Aigner zu kommen, mußte die Regisseurin lange suchen. Endlich wurde sie in ihrem Bekanntenkreis fündig. Viele Schauspielerinnen hatten sich für die Rolle der Mimmi beworben, aber erst bei Sophie, die damals noch zur Schule ging, sahen Tätigkeiten wie Zähneputzen alltäglich und aufregend zugleich aus. Manchmal erscheint ihr Gesicht selbst wie ein Platz, auf dem sich schnell mal ein Lächeln ereignen kann wie anderswo ein Kuß oder Unfall. Oft wartet man auch vergeblich darauf, daß etwas passiert. Und das ist trotzdem schön. Schön kompromißlos. Aber wer Filme macht, muß sein Publikum auch verführen wollen. Kompromißlosigkeit ist eine Zeitlang charmant. Im Kino wie in der Liebe. Die Gefahr dieser Art von Kino ist, daß es vor lauter Hinschauen seine Zuschauer aus dem Auge verliert. Oliver Fuchs, Axel Henrici
„Plätze in Städten“, Buch und Regie: Angela Schanelec, mit Sophie Aigner, Martin Jackowski, Jérôme Robart, Thomas Wüpper u. a., D 1998, 117 Min.
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