: Last Exit Potsdamer Platz
Auf dem Buckel von Hugos Quasimodo, dem „Glöckner von Notre Dame“, der heute abend in Berlin Weltpremiere hat, ruhen die Hoffnungen der deutschen Musicalbranche ■ Von Ralph Bollmann
Die markigen Sprüche gehören zum Branchenjargon. „Mindestens fünf weitere Musicals“ könne der hauptstädtische Markt lokker verkraften, schwärmte der Berliner Musikunternehmer Friedrich Kurz. Sein Kollege Peter Schwenkow wollte, als er einst das Schiller-Theater übernahm, die Berliner mit „Historicals“ aus der Hauptstadtgeschichte beglücken. Und der Mannheimer Musical-Mogul Wolfgang Boksch wollte am selben Ort „Produktionen entstehen lassen, die in Deutschland noch nicht zu sehen waren“.
Den großen Plänen, die das Trio infernale der hiesigen Kommerzkunst unters Volk brachte, ist nur eines gemeinsam: Die Berliner wollten davon nichts wissen. Mangels Nachfrage senkte sich der Vorhang über die mediokren Shows, kaum daß sie aus dem Boden gestampft waren.
Von heute an soll alles anders werden. Die Hamburger Stella AG, angeschlagener Marktführer der deutschen Musicalbranche, hat sich mit einem Kapitaleinsatz von 45 Millionen Mark gerüstet, um in einer beispiellosen Materialschlacht das Berliner Terrain fürs seichte Genre zu erobern. Fast 2.000 Plätze faßt das Theater am Potsdamer Platz, wo heute abend das Disney-Musical „Der Glöckner von Notre Dame“ Weltpremiere hat – frei nach dem Historienschinken Victor Hugos.
Stella-Chef Hemjö Klein muß sich seine Begeisterung für den Standort Berlin hart abringen. Dem Konzern sei „nichts lieber als dieses schwierige Terrain“, so lautet jetzt seine Parole (siehe Interview). Insider wollen wissen, daß Klein das Projekt bei seinem Amtsantritt vor drei Monaten nur deshalb nicht stoppte, weil es schon damals 25 Millionen Mark verschlungen hatte.
Der Manager, einst bei Bundesbahn und Lufthansa aktiv, soll den Unterhaltungskonzern wieder flottmachen – und das Geld der Banken retten, die den waghalsigen Expansionskurs des Firmengründers Rolf Deyhle einst finanzierten. 1986 hatte er in Hamburg mit „Cats“ begonnen, seit 13 Jahren schon läßt er das Katzendrama im ältesten kommerziellen Musicalpalast auf deutschem Boden allabendlich abnudeln.
Doch der Erfolg ist ihm in den Kopf gestiegen. Immer mehr Abspielstätten stampfte er aus dem Boden, immer häufiger auch an unattraktiven Standorten. Die Neigung des Publikums, sich an einem einzigen Wochenende für solch ein „einmaliges“ Erlebnis um bis zu 500 Mark erleichtern zu lassen, ließ folgerichtig nach.
Zuerst erwischte die Krise die Theater auf der grünen Wiese – und die Konkurrenten des übermächtigen Deyhle. 1996 schloß das Rockmusical „Tommy“ in Offenbach nach nur 14 Monaten seine Pforten, ein Jahr später verwandelte sich die Spielstätte für „Sunset Boulevard“, lieblos an eine Autobahnabfahrt in der Nähe von Wiesbaden geklatscht, in eine Investruine. Bei Stella selbst schob Sanierer Deyhle die Duisburger „Misérables“ und den Essener „Joseph“ aufs Abstellgleis.
Der Musicalboom, so glauben nicht nur Trendforscher, habe seinen Zenit längst überschritten. Immer weniger Musicalfans jedenfalls lassen sich allein der geklonten Shows wegen per Autobus durch die halbe Republik verfrachten. Das touristische Umfeld muß schon stimmen. Auch deshalb hofft die Branche, daß der „Glöckner“ nicht das Schicksal seiner Geschwister aus Niedernhausen oder Duisburg erleidet.
Ohne einen Massenansturm aus dem In- und Ausland jedenfalls wird sich das Spektakel nicht rechnen. Mit fünf Jahren Laufzeit kalkuliert der Konzern. Bei acht Vorstellungen pro Woche und einer Kapazität von fast 2.000 Plätzen müßten also rund vier Millionen Zuschauer den „Glöckner“ über sich ergehen lassen – bei gestaffelten Kartenpreisen, die im Schnitt eher bei 200 als bei 100 Mark liegen. Das entspricht in etwa dem Betrag, den ein Durchschnittsbürger des verarmten Berlin pro Woche zur freien Verfügung hat.
Die subventionierte Musicalbühne der Stadt, das Theater des Westens, begnügt sich mit Kartenpreisen zwischen 18 und 95 Mark. Dort will sich der neue Intendant Elmar Ottenthal vom Herbst an dem Kommerzmusical annähern – mit längeren Laufzeiten und populäreren Stücken. Offiziell sieht das Haus der Konkurrenz durch den „Glöckner“ gelassen entgegen. „Wenn Musicalfans in die Stadt kommen“, glaubt der scheidende Intendant Helmut Baumann, „gehen sie gern mal in zwei verschiedene Produktionen.“
Angesichts der nahenden Landtagswahl hat sich Kultursenator Peter Radunski (CDU) ohnehin zum Anwalt der leichten Muse aufgeschwungen. Einmal mehr hat der Senator angekündigt, im stillgelegten Metropoltheater würden bald wieder Operetten gespielt. Auch den Friedrichstadtpalast, wo leicht bekleidete Tänzerinnen für Senioren aus der Provinz die Beine schwingen, will er weiter alimentieren. „Es gibt keine Unterhaltungskunst“, hat Radunski erkannt, „es sei denn, der Staat unterstützt sie.“
Gut möglich, daß der Senator recht behält. Nicht allein, daß das Land schon den Bau des neuen Musicalpalastes durch einen Grundstücksverkauf zu einem Schnäppchenpreis und den Verzicht auf Abgaben kräftig subventioniert hat. Noch nirgendwo haben die Lokalpolitiker tatenlos zugeschaut, wenn eine Musicalbühne ins finanzielle Abseits geriet. Das Land Baden-Württemberg sprang dem maroden Stella-Konzern gar mit einer 20-Millionen-Bürgschaft bei. „Musical ist eine Kulturform, die nur ohne Subventionen richtig gut sein kann“, tönten die Betreiber von „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ in der Freien Volksbühne noch 1994. Ein gutes Jahr später mußten sie das Musical absetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen